Ein Zettel im Aufzug
Der Wintermorgen empfing Tom mit einem eisigen Hauch, als er das Firmengebäude betrat. Die Kälte folgte ihm bis zur Aufzugtür, die sich mit einem leisen Rauschen öffnete. Es war kurz nach sechs, viel zu früh für Menschenansammlungen. Meistens war er einer der Ersten im Büro, ein stilles Ritual, das ihn immerzu auf die Einsamkeit der grauen Bürowelt vorbereitete.
Doch heute war etwas anders. Auf dem abgewetzten Teppich direkt vor seinen Füßen lag ein kleiner Zettel, gefaltet und unauffällig. Neugier hielt seine Hand nicht zurück, und so hob er den Zettel auf, neugierig darauf, ob hier ein privater Moment auf ihn wartete. Vielleicht war es auch nur Shoppingliste, ein Rest von alltäglicher Vergesslichkeit.
Er faltete ihn behutsam auseinander. Die Handschrift war sorgfältig, die Worte schlicht: „Ich sehe dich jeden Morgen hier. Vielleicht können wir uns eines Tages wirklich begegnen.“ Keine Unterschrift, keine weiteren Hinweise. Doch etwas an den Worten entzündete eine flüchtige Wärme in seiner Brust.
Tom versenkte den Zettel in seiner Aktentasche. Den Rest des Tages drifteten seine Gedanken immer wieder dorthin zurück, zu dem sprachlosen Versprechen einer Begegnung. Er versuchte, sich die Verfasserin vorzustellen – natürlich ging er davon aus, dass es eine Frau war. Aber alles blieb vage, ein Schemen hinter geschlossenen Augen.
Die nächsten Tage glitten gleichförmig dahin. Doch die Routine bekam Risse, der Aufzug ein neues Gewicht. Jeden Morgen änderte sich die Spannung, das Warten: War sie heute auch schon da? Wartete sie auf ein Zeichen von ihm?
Clara sah Tom von der anderen Seite des gläsernen Konferenzraums. Sie hatte den Zettel platziert, aus einer spontanen Laune heraus, vielleicht sogar ein Anflug von Mut, der sie selbst überraschte. Ob er ihn gefunden hatte? Diese Frage brannte in ihr.
Am Freitag schließlich ließ sie das Abendessen mit Freunden sausen, blieb stattdessen länger im Büro. Es war ein riskanter Plan, aber vielleicht war es an der Zeit, ein wenig offensiver zu sein. Sie wollte ihm wirklich begegnen. Direkt, ohne die Poesie eines anonymen Zettels.
Nachteinhaft und still war das Büro nun, bis auf ein vereinzeltes Summen des Druckers und das Knarren eines Wasserspenders. Sie fühlte die Stille auf ihren Schultern wie eine bleierne Decke.
Es dauerte nicht lange, bis Tom an der Tür erschien, fast wie ein Schauspieler, der endlich auf die Bühne tritt. Sein Blick fiel auf sie, und er schien für einen Atemzug zu zögern, bevor er mit einem nervösen Lächeln den Raum betrat.
„Du bist also real“, sagte er, offenbar bemühend, die Leichtigkeit beizubehalten. Sein Eindruck von ihr war exakt – das war Clara, die Kollegin aus der Buchhaltung, die er gelegentlich bei Meetings gesehen hatte.
„Es scheint so“, erwiderte sie lächelnd, und ihre Stimme klang heiterer als sie sich fühlte. Sie redeten, zunächst unsicher, über gewöhnliche Dinge – das kalte Wetter, die Arbeit – bevor sie zu dem Zettel schwenkten.
„Danke“, sagte Tom schließlich. „Es hat meinen Tag erhellt. Nein, meine ganze Woche.“
„Ich habe es ernst gemeint“, antwortete Clara leise und sah ihm in die Augen, suchend nach einem wie auch immer gearteten Zeichen. „Vielleicht könnten wir wirklich…“
Ein Moment entstand, gedehnt und voller neuer Erwartungen, bevor Tom nickte. „Könnten wir. Lassen wir uns einfach darauf ein.“
Und so verabschiedeten sie sich, nicht mit einem festen Versprechen, sondern mit einer Ahnung von Zwischenmenschlichkeit, die in den unzähligen Fluren des täglichen Daseins oft nicht spürbar war.
Als Tom das Büro verließ, fühlte sich der Winter irgendwie weniger kalt an, und Clara saß noch lange auf ihrem Platz, das Herz leicht und voller neuer, ungeahnter Hoffnungen.
Der kurze, vertraute Austausch im Aufzugregtete hatte eine stille Tür geöffnet. Eine Tür, die zu einem tiefen, unbekannten Potenzial führte, das sich in kleinen, alltäglichen Taten verbarg. Vielleicht waren es wirklich die kleinen Gesten, die das Leben veränderten.




