Finjas fliegender Drachen
Vorlesezeit: ca. 12 Minuten
Es war ein frischer Herbstmorgen, an dem die Blätter der Bäume in leuchtendem Rot und Gold die Welt zu einem bunten Meer verwandelten. Auf der Wiese am Dorfrand, wo die Winde oft spielerisch um die alten Kastanienbäume wehten, stimmte sich Finja auf einen besonderen Tag ein.
Mit funkelnden Augen zog sie Papa durch den knisternden Blätterteppich. Neben ihnen tapselte Miez, die getigerte Katze, unbekümmert und elegant zugleich. In ihren Pfoten raschelten die Blätter, und ab und zu wehte der Duft von weit her, nach nasser Erde und kühlem Wind über die Felder.
“Papa, meinst du, heute ist ein guter Tag für unseren Drachen?”, fragte Finja und blickte fragend zu den ziehenden Wolken auf.
Papa lächelte und schaute zu dem großen, hellen Drachen, den er in seiner Hand hielt. Ein Drache, der leuchtende Streifen aus Rot, Blau und Gelb hatte und in der Herbstsonne schimmerte. “Ich glaube, er kann es kaum erwarten, den Himmel zu berühren”, antwortete er sanft und hielt den Drachen fest im Griff.
Als sie die Wiese erreichten, suchten Finja und Papa einen freien Platz, wo der Wind nicht nur zwischen den Baumwipfeln rauschte, sondern auch sachte über das Gras strich. Finja konnte kaum stillstehen, ihre Füße kribbelten vor Aufregung, und ihr Herz hüpfte bei jedem Windstoß höher.
Zusammen entrollten sie die lange Schnur. Miez beobachtete neugierig, ihre Augen waren groß vor Erwartung. Plötzlich gesellte sich ein neuer Besucher zu ihnen. Auf einem Ast krächzte Rabe Krächz laut und winkte mit seinen Flügeln im Takt des Windes.
“Schau, wer da ist! Rabe Krächz möchte wohl zuschauen”, kicherte Finja und winkte dem Raben zu.
Der Rabe zog den Kopf schief, als ob er den Mut des Drachenflieger-Teams bestaunte. “Krächz, woher der Mut zu fliegen?” schien er zu fragen und beobachtete wachsam jeden Schritt, den Finja und Papa machten.
“Bereit, Finja?”, fragte Papa und hob den Drachen in die Luft. Finja nickte, ihre Hände zitterten leicht vor Aufregung, als sie die Schnur fest umklammerte.
Langsam ließ Papa den Drachen los, und er wippte erst zögerlich, dann immer entschlossener durch die Luft. Der Wind hob ihn höher, und Finja spürte, wie ihre Arme die führende Kraft des Auftriebs wurden.
“Er fliegt! Papa, er fliegt wirklich!”, rief Finja strahlend und zog die Schnur mit fester, doch sanfter Hand. Es war, als ob ihr Herz gemeinsam mit dem Drachen in die Höhe stieg.
Miez plumpste ins Gras und beobachtete fasziniert das bunte Spektakel. Der Rabe hupste aufgeregt am Rand des Astes hin und her und stieß laute Töne des Erstaunens aus.
“Ein bisschen mehr Geduld, Finja. Der Wind kann manchmal launisch sein, aber zusammen schaffen wir das”, half Papa, als der Drachen eine kleine Pirouette flog und Finja seine Richtung justieren musste.
Mit ruhiger Hand führten sie den Drachen weiter, der sich jetzt so federleicht wie ein Blatt im Herbstwind drehte. Und dann, in einem Moment der absoluten Stille, hielt der Wind fast den Atem an, und Finjas Herz klopfte vor Spannung.
Dann setzte ein milder Zug ein, der voller Versprechen war, und der Drachen zog wie an unsichtbaren Fäden nach oben. Die bunten Streifen blitzten fröhlich in der Herbstsonne, die wie ein goldener Ball am Himmel hing.
Finja und Papa standen still da, während der Drachen sich immer höher schraubte, getragen von der Geduld und dem sanften Spiel des Windes. Sie schauten ihm hinterher, mit einem Lächeln voller Zufriedenheit und gedeihendem Vertrauen.
Als die Sonne begann, sich hinter die Baumwipfel zurückzuziehen und die Schatten länger wurden, wickelten Finja und Papa gemütlich die Schnur ein. Der Drachen landete sanft im Gras, ein Abenteurer, der den Himmel berührt hatte, bereit für weitere Flüge an einem anderen Tag.
“Jeder Traum fliegt mit Geduld ein Stück höher”, flüsterte Papa, als er Finja in die Arme nahm.
Gemeinsam, mit Miez an ihrer Seite und Rabe Krächz, der ihnen bis zum Dorfrand folgte, gingen sie langsam zurück, die Wärme des gemeinsamen Erlebnisses noch im Herzen.




