Gedankenreisen einer Träumerin
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Lina saß in ihrem alten Sessel, die Beine angewinkelt, ein Buch aufgeschlagen auf dem Schoß. Doch sie las nicht. Der Regen prasselte beständig gegen die Fensterscheiben, sein gleichmäßiger Rhythmus erfüllte den Raum und ließ die Welt draußen im grauen Schleier des Winters verschwinden. Das Wohnzimmer war erfüllt von einem milden, warmen Licht, das die Kälte des Draußens vergessen ließ. Seufzend kippte sie den Kopf zurück und schloss die Augen, ihre Gedanken begannen zu wandern.
Die Erzählerin, ebenfalls eine entferntere Freundin Linas, hatte sie oft besucht und kannte dieses Spiel der Fantasie gut. Linas Wohnzimmer war stets eine Mischung aus Wohlgefühl und einer gewissen Aufbruchsstimmung, auch wenn sie selten wirklich verreiste. „Erzähl mir wohin du gehst“, hatte sie Lina einmal gesagt.
„Es gibt einen Ort, wo die Wellen in sanften Bogen auf den weißen Sand treffen“, begann Lina, „Dort ist die Luft voller Salz und es riecht nach Freiheit.“
Die Erzählerin lächelte bei der Erinnerung. Es war eine kalte, dunkle Nacht wie diese gewesen, als Lina einmal durch ihre Vorstellungskraft flüchtige Freiheiten gewann. Jetzt, allein in ihrem Wohnzimmer, strahlte ihre innere Welt und führte sie hinaus, wohin auch immer sie wollte.
Die Zeit verlor an Bedeutung, als Lina in Gedanken durch das Tor ihrer Fantasie trat. Ein Strand, der niemals endete, tauchte vor dem inneren Auge auf, und sie spürte den warmen, feuchten Sand unter ihren Füßen. Der Himmel wölbte sich in einem tiefen Azur über ihr ohne eine Wolke, nur die endlose Sonne, die ihre zärtlichen Arme auszubreiten schien.
„Was hältst du davon?“, hatte die Erzählerin einmal gefragt, eine Anspielung auf den Unterschied zu ihrer Realität.
„Es genügen mir Wellen und die Nähe des Meeres, um zufrieden zu sein,“ antwortete Lina. „Was kann es Größeres geben als die Freiheit des Geistes?“
Doch die Sehnsucht nach dem Meer war nur eine ihrer vielen Gedankenreisen. Auch die Ruhe eines entlegenen Bergdorfes, tief eingebettet in den mystischen Schleier des Nebels zwischen den schneebedeckten Gipfeln, hatte sie in ihrer Vorstellung oft besucht. Jeder Atemzug dort war kristallklar und frisch, die Einsamkeit schützend, wie ein weiches, dickes Tuch.
Doch der Regen schlich sich nun wieder in ihren Traum und sie öffnete die Augen, um die dicken Tropfen auf den Fenstern zu betrachten. In der Vorstellung war sie nicht zu Hause in ihrem vertrauten Sessel, sondern in einem unbekannten Raum, irgendwo in einem anderen Teil der Welt.
Selbst als sie darüber nachdachte, warum sie diese Flucht aus der Wirklichkeit brauchte, lächelte sie. Es war nicht der Wunsch zu fliehen, sondern eine Art Erholung für die Seele, eine kreative Pause ohne die Verpflichtungen des Alltags.
„Warum willst du weg?“ hatte die Erzählerin einmal in aller Klarheit gefragt, und Lina hatte nur gelächelt.
„Manchmal bringen mich die Gedanken wieder zurück an einen Ort, der keine Sorgen kennt,“ hatte sie geantwortet.
Der Regen tropfte weiterhin monoton gegen die Scheiben, doch Lina fühlte sich unglaublich leicht, fast als schwebte sie. Dies war ihr Moment, ein stiller Dialog mit sich selbst, mit ihren Wünschen und Träumen.
Sie wusste, dass sie sich nie ganz verlieren würde, nicht in der Fantasie, sondern als Bestätigung ihrer selbst. Die Reisen, welche sie in Gedanken antrat, waren keine Flucht, sondern Erbindungen zu Teilen ihres Wesens, die im Alltag keinen Platz fanden.
Und so schloss sie die Augen erneut. Sie spürte, wie sie diesmal hinaus über einen weiten See glitt, der in der Dämmerung tiefschwarz dalag, während die Sterne klar und kühl über ihr funkelten. Dieses Bild verblasste jedoch, als ein letzter Gedanke ihren Verstand streifte – warum zu träumen wagen, wenn die eigenen Gedanken manchmal schon freie Flügel bieten?
Die wohlige Dämmerung im Zimmer verwandelte sich und mit ihr auch ihre weltweite Reise, denn selten hatte sie sich so befreit gefühlt. Manchmal genügt ein Gedanke, um wirklich frei zu sein. Mit diesem ruhigen Bewusstsein schlief Lina ein.




