Der Wert des Dranbleibens
Vorlesezeit: ca. 20 Minuten
Der Regen prasselte unaufhörlich gegen das Fenster der kleinen Küche, während Jonas mit müden Augen auf den Bildschirm seines Laptops starrte. Es war eine dieser dunklen Herbstnächte, die die Gedanken schwerer als gewöhnlich machten und die Kälte durch die Ritzen der alten Fenster sickerte.
Neun Absagen in den letzten zwei Monaten – das war die Bilanz. Vor ihm lag ein zerknittertes Blatt Papier, die ausgedruckte Bewerbung für den Job, den er sich am meisten gewünscht hatte. Eine Mischung aus Frustration und Hoffnungslosigkeit lastete auf seinen Schultern. Er rieb sich die Stirn und nahm einen Schluck des längst kalten Kaffees.
Der Bildschirm leuchtete ihm entgegen, Emails mit Absendern, deren Namen ich mittlerweile verabscheute, reihten sich dort auf. Eine weitere E-Mail von heute Nachmittag – Absage. Die Worte zogen in seinem Kopf ihre Kreise: „Leider müssen wir Ihnen mitteilen…“.
Es klopfte leise an der Küchentür und dann trat Leo ein, der bei ihm wohnte, solange er selbst nach einer neuen Wohnung suchte. „Hey, noch wach?“, fragte Leo, seine Stimme war sanft, mit einem Hauch von Besorgnis.
Jonas zuckte mit den Schultern, „Schlaf und ich sind seit kurzem keine Freunde mehr.“ Er versuchte zu lächeln, doch es gelang nicht.
Leo setzte sich zu ihm an den Tisch, ein mitfühlendes Nicken als Aufmerksamkeit. „Du weißt, irgendwann wird sich etwas ergeben. Du musst nur dranbleiben.“
„Leichter gesagt als getan“, murmelte Jonas, seine Finger spielten mit der Kante des zerknitterten Blatts. Der Gedanke, alles wieder rückgängig machen zu wollen, war verlockend.
„Willst du darüber reden oder soll ich einfach nur hier sitzen?“, fragte Leo, die Art von Freund, der auch im Schweigen begleitete.
Vielleicht war das genau, was Jonas brauchte – Stille, aber nicht die bedrückende, sondern die geteilte, die einem die Zeit gab, die eigenen Gedanken zu sortieren. Er lehnte an der Stuhllehne zurück, beobachtete den Regen, wie er Bäche auf das Fensterglas malte.
„Was, wenn keiner von diesen Bewerbungen je zu etwas führt?“, Jonas’ Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
Leo legte seine Hand auf Jonas’ Arm. „Aber du lernst von jeder einzelnen, oder? Manchmal formen einen diese Absagen mehr, als man es merkt. Vielleicht sind sie nicht das Ende, sondern der Anfang.“
Eine warme Hoffnung breitete sich in Jonas aus, die ihn kurz überrascht atmen ließ. Die Worte seines Freundes sanken langsam in seine Gedanken ein, als ob sie eine Veränderung in ihm anregten.
„Was meinst du damit?“, fragte Jonas, den Blick nun auf Leo gerichtet.
Leo lächelte sanft. „Jede Absage schärft deinen Blick, formt deinen Weg. Vielleicht ist es das, was dir den Mut gibt, deinen eigenen Wert zu erkennen – jenseits von Jobtiteln und Stellenanzeigen.“
Jonas nickte langsam, sprachlos, aber nicht ohne Hoffnung. Es war, als würde der Nebel in seinem Kopf sich lichten, klarer werden. Der Regen draußen hatte aufgehört, die Tropfen glitzerten auf den Blättern wie kleine Juwelen, verheißungsvoll und neu.
Er stand auf und warf einen letzten Blick auf die zerknitterte Bewerbung. Er entschied sich, diese niederzulegen, aber nicht wegzuwerfen – als Erinnerung daran, dass jeder Schritt, selbst der zurückhaltende, Teil seiner Geschichte war.
„Vielleicht versuche ich es morgen noch einmal“, sagte er schließlich, eine neue Energie und Zuversicht in seiner Stimme.
„Ich glaube, das ist ein guter Plan“, erwiderte Leo, und die beiden trennten sich mit einem stillen Verständnis.
Die Nacht schritt weiter voran, und mit ihr kam der Frieden, als Jonas in sein Bett kroch, während sich die Wärme seines neu gefundenen Mutes um ihn legte. Die Welt wogte weiter, aber Jonas verstand nun ein wenig mehr über den Wert des Dranbleibens.
Der Regen hatte eine Pause gemacht, der Himmel klart auf, und mit ihm auch das Herz von Jonas. Er schloss die Augen, bereit, dem neuen Tag zu begegnen – gleich dem Versprechen, das der Herbsthimmel gemacht hatte.




