Zug der Erinnerung
Vorlesezeit: ca. 20 Minuten
Der Nachtzug zog ruhige Kreise durch die dunkle Landschaft, die sich vom stetigen Regen benetzt zeigte. Die Tropfen rannen unablässig an den Fensterscheiben entlang, schufen kleine Bäche, die in der Dunkelheit verschwanden. Im Inneren des Waggons war es warm und gedämpft. Ein zarter, beinahe nostalgischer Duft von Leder, altem Holz und Kaffee hing in der Luft. Anna saß in ihrem Abteil und beobachtete das rhythmische Spiel des Regens. Der Takt der Räder, das leise Kreischen der Schienen, waren wie ein beruhigendes Lied, das in der Stille der Nacht erklang.
„Entschuldigung, ist hier noch ein Platz frei?“ Die Stimme riss Anna aus ihren Gedanken. Sie blickte auf und sah Niklas durch die halb offene Abteiltür blicken. „Natürlich“, antwortete sie und nickte einladend.
Er trat ein, eine leichte Unsicherheit in seiner Bewegung, als der Zug in eine Kurve schwenkte, und setzte sich ihr gegenüber. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke, als ob ihre Augen bereits die Geschichte des anderen durch das Geräusch der dichten Regentropfen erkennen könnten. Ein flüchtiges Lächeln glitt über seine Lippen, bevor er seine Tasche verstaute und sich zurücklehnte.
Während der Zug weiterhin seinen Weg durch die Nacht bahnte, füllte sich das Abteil mit einer angenehmen Stille, die von der behutsamen Bewegung des Zuges getragen wurde. Anna betrachtete Niklas’ Gesicht im schwachen Licht, das von der kleinen Lampe über ihnen an die Decke geworfen wurde. Es war ein ruhiges Gesicht, von einer sanften Melancholie durchzogen. Gemeinsam teilten sie die Unaufgeregtheit der vorbeiziehenden Zeit; die begrenzte, flüchtige Welt des Nachtzugs, die für diesen Moment ihre Realität bedeutete.
„Reisen Sie oft mit dem Zug?“ fragte Niklas unvermittelt, den gedankenverlorenen Ausdruck aus den Augen verscheuchend.
„Nicht oft“, antwortete Anna. „Es hat etwas Tröstliches, finde ich. Der Gedanke, irgendwohin zu fahren, ohne Hetze, einfach nur unterwegs zu sein.“
„Ja, ich verstehe, was Sie meinen.“ Niklas’ Stimme klang nachdenklich, und für einen Augenblick schienen sie beide von den Eindrücken der stillen Nacht und des Reisens gefangen. Eine unsichtbare Brücke baute sich zwischen ihnen, während sie zögernd ihre Geschichten teilten, Stück für Stück, Wort für Wort.
Anna erzählte von den Büchern, die sie geschrieben hatte, angeregt durch die vielen Geschichten, die sie erlebt oder erdacht hatte. Niklas hingegen beschrieb seine Leidenschaft für die Fotografie, das Einfangen von Momenten, die sonst verloren gehen würden.
Die Stunden vergingen wie ein flüchtiges Traumbild, während der Zug unermüdlich weiterwanderte. Die Dunkelheit außerhalb wirkte intim und schützend, als gäbe es keine andere Welt außerhalb des flackernden Lichts ihrer kleinen Lampe und dem leichten Schwanken der Abteilvorhänge.
„Haben Sie jemals über Zufälle nachgedacht?“ fragte Anna, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander saßen.
„Zufälle?“ wiederholte Niklas, als könnte er den Gedanken schmecken. „Ich denke, sie sind die versteckten Fäden unseres Lebens, die uns in unerwartete Richtungen führen.“
„Vielleicht“, murmelte Anna, und das Gewicht ihrer Worte schwebte wie ein nebliger Hauch im Abteil. Neugierde und Verständnis legten sich über die Unsicherheit, die mit jeder im Austausch geteilten Geschichte schwand.
Als der Zug schließlich langsamer wurde und auf einen Bahnhof zusteuerte, wussten beide, dass die Realität bald einbrechen und sie aus dieser Blase des Augenblicks reißen würde. Dennoch blieb da etwas Unausgesprochenes, ein Gefühl, das in den Herzen beider verankert zu sein schien.
„Vielleicht treffen wir uns einmal wieder“, sagte Anna, als die Durchsage des Zugführers erklang und die Ankunft ankündigte.
Niklas nickte. „Vielleicht. Ich würde es mögen.“
Die Türen öffneten sich, und die scharfe Herbstluft strömte herein, verklang jedoch schnell im Waggon. Anna und Niklas verabschiedeten sich mit einem letzten, lang anhaltenden Blick, bevor sie ihre Wege trennten.
Der Regen hatte nicht aufgehört, begleitet sie weiter auf ihren Reisen. Und in ihren Gedanken blieben die Augenblicke der Zugfahrt bestehen – flüchtig, doch beständig.




