Wenn die Nacht die Wahrheit bringt
Vorlesezeit: ca. 11 Minuten
Lea blickte aus dem Fenster, durch das die letzten Strahlen der untergehenden Sonne kaum noch den dichten, wolkenverhangenen Himmel durchdrangen. Das Büro lag nahezu völlig in Dunkelheit, bis auf die kleinen, blassen Lichtinseln, die der Bildschirm ihres Computers und die Standby-Leuchten der Geräte malten. An diesem Tag im tiefen Winter schien selbst die Dunkelheit schwerer zu werden.
Seit Stunden schien sie die einzige im Großraumbüro zu sein. Die anderen Mitarbeiter waren längst gegangen, während sie noch immer über ihren Berichten brütete, die dringend am nächsten Morgen bei Herr Kranz, ihrem unversöhnlichen Chef, auf dem Tisch liegen mussten.
Ein Klick, dann das Aufhellen eines Monitors in der Ferne verriet, dass sie doch nicht allein war. Markus, ein Kollege aus einer anderen Abteilung, saß einige Tische weiter entfernt und schien ebenfalls den Feierabend zu versäumen.
Lea erhob sich und trat leise auf ihn zu. Sie liebte diese Momente, in denen die Welt still schien und nur das leise Brummen der Heizungsanlage die Stille brach. Mit jedem Schritt spürte sie das kühle, glatte Holz des Fußbodens unter ihren Schuhen.
„Du auch noch hier?“, fragte sie, ihre Stimme ein leichtes Echo in der verwaisten Etage.
Markus blickte auf, die grelle Bürobeleuchtung reflektierte sich in seinen müden Augen. „Ja“, sagte er schlicht, ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen.
Sie setzte sich auf die Kante seines Tisches, ließ ihren Blick über die verstreuten Papierstapel und die halb geleerten Kaffeetassen schweifen. Das Büro hatte in den dunklen Stunden eine vertrauliche Stimmung, die ihnen beiden etwas mehr Freiheit ließ, sich von den täglichen Rollen zu lösen.
„Manchmal frage ich mich, warum ich überhaupt noch hier bin“, sagte Markus leise, als hätte er förmlich Leas Gedanken beantwortet. Die Raumtemperatur fühlte sich kälter an, als ob die Heizung ihrer Energiereserven beraubt worden wäre.
Lea zog die Schultern hoch und rieb sich die Hände. „Es gibt so viele unerledigte Dinge“, murmelte sie. „Und irgendwie fühlt sich die Nacht hier sicherer an.“
„Kennst du das Gefühl, dass man tagsüber jemand anderes ist?“, fragte er unvermittelt. „Als ob man sich selbst durch den Trubel verliert?“
Lea nickte, irgendeine Wärme durchströmte sie, während sie ihn ansah. „Vielleicht nicht jemand anderes, aber jemand, den man nur halb versteht.“
Sie schwiegen gemeinsam, während der Schneefall begann und die Kristalle draußen in einer langsamen, kalten Parade zur Erde gleiten ließ. Der gesamte Raum schien kurz innezuhalten, als Miguel aufstand und zum Fenster trat. Sie folgte ihm, als ob sie an dieser unsichtbaren Verbindung zogen, die die Nacht zwischen ihnen gesponnen hatte.
„Hast du jemals darüber nachgedacht wegzugehen?“, fragte sie schließlich.
Er atmete tief durch und sah nach draußen, als könnte die Antwort im Schneegestöber verborgen sein. „Ja, aber ich bleibe meistens, weil ich mich vom Chaos regerieren kann.“
Ein seltener Moment der Einsicht teilte den Raum – eine gemeinsame Bindung über die Grenzen von eigenen Zweifeln und Erfüllungen hinaus. Lea berührte seinen Arm leicht, ihre Augen schimmerten im schwachen Licht der Bildschirme.
„Vielleicht, um letztendlich mehr von sich selbst zu finden“, fügte Markus hinzu.
Die Worte hingen zwischen ihnen, während sich die Wolken draußen zurückzogen und das Mondlicht wie eine gespenstische Gardine durch die großen Fenster sickerte.
„Lass uns gehen. Die Stadt sieht ganz anders aus, wenn der Schnee fällt“, schlug Lea vor, ein Hauch von Entschlossenheit in ihrer Stimme.
Markus nickte, schaltete den Bildschirm aus und packte seine Sachen zusammen. Ihr Weg wurde von kleinen weißen Blumen gesäumt, die sich auf dem Boden bildeten, als sie das Gebäude verließen. Jeder Schritt fühlte sich ermessenswert neu an, als würden sie vom letzten Licht eines wohl bekannten Ortes geführt.
Zusammen machten sie sich auf den Weg in die Nacht, bereit, sich einer neuen Wahrheit zu stellen.




