Wenn Stillstand neue Wege öffnet
Vorlesezeit: ca. 10 Minuten
Der Herbst hatte Einzug gehalten. Ein warmes Licht fiel durch das große Fenster auf den Schreibtisch, wo sich Staub in kleine feine Muster sammelte. Laura stand in der Bürotür, die Hände in den Taschen ihres Mantels vergraben. Der Schreibtisch sah anders aus als sonst – leer und aufgeräumt, kein Stapel Akten, keine Notizen.
„Es fühlt sich seltsam an, nicht wahr?“ hörte sie die Stimme von Sven, der in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes stand. Der Kollege, der sonst immer in hektischer Betriebsamkeit war, lehnte jetzt entspannt an der Fensterbank. „Glaubst du, das bedeutet, dass etwas Neues anfängt?“
Laura schaute verstohlen zurück zu Chef Gregor, der gerade an ihnen vorbeiging, ohne ein Wort zu sagen. Seine Stirn war in eine nachdenkliche Falte gelegt, der Blick in die Ferne.
„Ich weiß nicht“, antwortete Laura. „Vielleicht ist es nur eine Pause, oder eine Art von… Stillstand.“
Die untergehende Sonne warf lange orangefarbene Schatten in den Raum und Laura atmete tief ein. Der Geruch von welken Blättern, die vom benachbarten Park hereingetrieben wurden, erfüllte die Luft.
„Weißt du, Laura“, Sven schwang seinen Blick von der Sonne zu ihr, „manchmal muss man mit dem Aufräumen anfangen, bevor man Neues schaffen kann.“
„Vielleicht hast du recht“, antwortete Laura langsam. „Es ist nur… ich habe mir meinen Erfolg immer anders vorgestellt. Mit vollen Schreibtischen und endlosen Projekten. Jetzt ist da dieser leere Tisch und ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll.“
Der Tag verging in ruhigem Schweigen, unterbrochen nur von dem raschelnden Geräusch der Papiere, die Sven auf dem Boden gesammelt hatte. Chef Gregor trat später an sie heran. „Laura, hast du einen Moment?“
Sie folgte ihm in das Büro nebenan. Ein kühles Grau legte sich über den Raum, als Gregor die Blenden leicht schloss. „Ich wollte mit Ihnen über den nächsten Schritt sprechen“, begann er. „Der Stillstand hier im Büro ist nicht das Ende unserer Arbeit, sondern der Anfang von etwas Größerem. Sie haben eine Gelegenheit – denken Sie darüber nach, was Sie wirklich erreichen wollen.“
Laura verspürte einen leichten Schlag in der Magengrube. Die Worte „etwas Größeres“ hallten in ihr nach, so als ob sie die leere Projektionsfläche ihrer Gedanken ausfüllten.
„Ich verstehe“, sagte sie schließlich, ihre Stimme fest und klar.
Als sie zurück zu ihrem Schreibtisch ging, bemerkte sie etwas, was sie zuvor nicht gesehen hatte. Der leere Schreibtisch war nicht nur ein Zeichen von vergänglicher Ruhe, sondern auch von Möglichkeiten, die darauf warteten, von ihr geformt zu werden.
Die Tage vergingen, das Blattwerk draußen wurde dichter und rotgolden. Laura begann, ihre Gedanken zu ordnen, wie die Akten, die bald ihren Tisch füllen würden. Mit jeder neuen Idee wuchs ihre Entschlossenheit. Die Leere, die sie zunächst erschreckt hatte, wurde zu ihrem Kompass.
Schaute man aus dem Fenster, hatte der Herbst den Park in ein Bild aus Feuerfarben verwandelt, und Laura erkannte, dass die Natur selbst ständige Erneuerung bedeutete. „Manchmal“, dachte sie, „muss man durch die kahle Schönheit des Herbstes gehen, um den Frühling im eigenen Selbst zu finden.“
Als sie an diesem Abend den Schreibtisch verließ, fühlte sie sich bereit. Ihre Schritte hallten ruhig im erkaltenden Flur wider, und ein leises Lächeln spielte um ihre Lippen. Sie hatte verstanden, dass der Stillstand in ihrer Karriere ihr die Freiheit geschenkt hatte, einen neuen Anfang zu machen.
Mit einem letzten Blick auf das Büro verließ Laura das Gebäude. Die kühle Luft begrüßte sie, voller Versprechen für den morgigen Tag.
Die Sonne, jetzt nur noch ein oranger Streifen am Horizont, erinnerte sie daran, dass jede Nacht einen neuen Morgen brachte. Der leere Schreibtisch war keine Verpflichtung mehr, sondern eine Einladung.




