Milo und das Lied der Stille
Vorlesezeit: ca. 10 Minuten
Milo saß am Fenster und blickte hinaus in den regnerischen Herbstabend. Die Regentropfen perlten sanft die Scheibe hinunter und hinterließen schimmernde Spuren. Draußen waren die Bäume längst kahl, und die wenigen Blätter, die noch übrig waren, zitterten leicht im Wind.
Neben Milo lag Kater Fin zusammengekauert auf einem weichen Kissen und schnurrte leise vor sich hin. Seine Augen waren nur halb geöffnet, als ob er ebenfalls dem sanften Lied des Regens lauschte.
„Oma, hörst du das?“, fragte Milo und blickte zu Oma Anna, die in einem alten Schaukelstuhl saß und ein Wollknäuel in den Händen hielt.
„Ja, mein Lieber“, antwortete Oma Anna mit einem warmen Lächeln. „Das ist das Lied des Herbstregens. Es ist leise, aber wenn man gut zuhört, erzählt es Geschichten.“
Milo schloss die Augen und stellte sich vor, die Regentropfen wären winzige Botschafter aus einer geheimen Welt, voller Abenteuer und Wärme. Er konnte das Geräusch so klar hören – ein leises Prasseln, das sich mit dem gelegentlichen Lufthauch vermischte, der durch einen Spalt der Tür hereinwehte und die Gerüche von feuchtem Laub und einem Hauch von Kaminrauch mitbrachte.
„Erzähl mir eine Geschichte vom Regen, Oma“, bat Milo neugierig.
Oma Anna legte ihr Strickzeug zur Seite und begann auf ihre sanfte Art zu sprechen: „Es war einmal ein kleiner Regentropfen, der von einer Wolke auf die Erde herabstreifte, um die Welt zu bereisen. Er tanzte auf Blättern, glitt an Fensterrahmen hinab und sang seine Melodien an jede Ecke, die er berührte.“
Milo öffnete langsam die Augen und sah, wie Kater Fin seinen Kopf hob, als ob er aufmerksam zuhörte. Die leise Musik aus dem Regen fügte sich nahtlos in die sanfte Stimme seiner Oma ein.
„Der Regentropfen traf andere Tropfen und gemeinsam verwandelten sie kleine Wasserflächen in lebendige Spiegel, die die Umgebung in schillernden Farben zurückwarfen“, fuhr Oma Anna fort. „Und dort, wo sie auf den Boden trafen, sprießen Blumen, sobald der Frühling sie rief. Weißt du, manchmal erzählen sie sogar von fernen Ländern und Abenteuern.“
Milo lächelte bei der Vorstellung und zog seine Decke etwas näher. Der Raum war von einer angenehmen Wärme erfüllt, die vom knisternden Kamin stammte und das Flackern der Flammen tanzte sanft an den Wänden.
„Kannst du es fühlen, Milo?“, fragte Oma. „Diese Ruhe in der Stille, das sanfte Flüstern der Regentropfen, wie eine Umarmung der Natur?“
„Ja“, flüsterte Milo und blickte verträumt hinaus. „Es ist fast wie ein Lied.“
Oma Anna nickte weise. „Genau, Milo. Und jedes Mal, wenn wir leise sind, können wir Teil dieses Liedes werden. Es erzählt von der Schönheit der Welt, die uns umgibt.“
Milo schloss die Augen wieder, diesmal in das beruhigende Gefühl sinkend, das der Regen und die Wärme des Raumes ihm gaben. Er konnte das sanfte Schnurren von Fin spüren, das sich mit dem leisen Prasseln der Tropfen vermischte und ihm das Gefühl gab, als wäre er in ein wärmendes Tuch der Geborgenheit gehüllt.
Während er langsam in den Schlaf glitt, hörte er, wie Oma ihren Schaukelstuhl sanft hin und her bewegte, in einem Rhythmus, der perfekt zum Regen passte. Und während er sich weiter in die Traumwelt verlor, hörte er das letzte Flüstern der Regentropfen, als ob sie ihm ein „Gute Nacht, Milo“ zuflüsterten.
In dieser friedlichen Stille fand Milo das, was er gesucht hatte: das Lied in der Stille, das seine Seele mit einer warmen Melodie umgab, die noch lange nachklang.
Es war in solchen Momenten, dass Milo die Schönheit des Schweigens entdeckte, denn er wusste, manchmal sagt die Stille mehr als Worte.




