Der Fall im Flusstal
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Der Nebel hing wie dichte Schleier über dem Fluss, dessen Ufer in unbestimmte Ferne verschwanden. Auf der alten, halb verfallenen Brücke stand Kommissarin Julia und blickte in die undurchdringliche Dunkelheit. Die Luft war klamm und roch nach nassem Holz und Moder.
„Nicht gerade ein einladender Ort, um jemanden zu treffen“, murmelte Ben, der Gerichtsmediziner, der sich neben sie stellte. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, verschluckt vom zunehmenden Rauschen des Flusses, das sich mit dem Knistern der feuchten Blätter im Wind vermischte.
Julia zog den Kragen ihres Mantels enger um sich. „Aber der einzige Ort, der Sinn ergibt. Arno behauptet, er habe genau hier den Mord gesehen.“ Ihr Blick glitt über die brüchige Struktur der Brücke, während ein Film von vergangenen Ereignissen vor ihrem inneren Auge ablief. Arno, der Zeuge, war ein Mann, dem sie nicht traute. Zu viele Lügen in der Vergangenheit, und doch schien er diesmal die Wahrheit zu sagen.
Ben räusperte sich. „Glaubst du, er steckt mit drin?“
Julia zuckte mit den Schultern. „Manchmal weiß ich selbst nicht mehr, was ich glauben soll. Aber jemand ist tot, und Arno ist unser einziger Anhaltspunkt.“
Der Fluss unter ihnen schien dunkler zu werden, während die Wolken sich verdichteten und der Wind lauter heulte, als ob er selbst einen Schrei ausstoßen wollte. Julia trat zurück, dachte an all die Jahre, die sie diesem Beruf gewidmet hatte, und an die vielen Nächte wie diese, wo die Wahrheit sich im Nebel versteckte.
„Wir finden es heraus“, sagte Ben zuversichtlich. „Ihr beide habt vergangenheit, aber du hast den richtigen Instinkt.“
Julia nickte, doch eine unerklärliche Unruhe breitete sich in ihr aus. Die Erinnerungen an eine verlorene Freundschaft, an vergebene Chancen zogen ihre Gedanken in die Tiefe, wie der Fluss, der unaufhaltsam weiterfloss.
Plötzlich ertönte ein Geräusch hinter ihnen. Ein knackendes Geräusch auf dem nassen Holz der Brücke. Julia drehte sich blitzschnell um, die Hand instinktiv an ihrer Waffe. Aber es war nur Arno, der im dämmrigen Licht der Straßenlaterne erschien.
Sein Gesicht war schmal, die Augen tief in den Höhlen. Er kam näher, sein Atem schwer zu erkennen. „Es war hier“, sagte er mit rauer Stimme und zeigte auf einen Punkt nahe der Brückenmitte. „Ich habe es gesehen, da war ein Kampf.“
Julia sah ihn fest an. „Wer war es, Arno? Wer hat ihn umgebracht?“
Arno zögerte. „Ich habe nur einen Schatten gesehen, es ging alles so schnell. Plötzlich lag er da, neben dem Geländer.“
„Und du bist sicher, dass du nichts weiter weißt?“ fragte Ben skeptisch. Arno wich seinem Blick aus. Geschichten wie diese könnten Menschen retten oder zerstören, und Arno wusste das besser als jeder andere.
Der Nebel schien sich um sie zu schließen, ein unheilvolles Flüstern vermischte sich mit dem Rauschen des Flusses. Julia spürte die Schwere der Wahrheit, die Wahrheit, die sie in Arnos Worten vermisste. Aber man konnte ihn nicht zwingen, Worte auszusprechen, wenn das Wasser Geheimnisse flüsterte.
Ben klopfte Arno freundlich auf die Schulter. „Jeder hat seine Dämonen“, sagte er und Julia wusste, dass auch sie ihre hatte, begraben unter Schichten von Fallakten und ungelösten Rätseln.
Als Arno ging, blieb Julia stehen und blickte ihm lange hinterher, wie er im Nebel verschwand. Was sie suchte, war nicht nur Gerechtigkeit. Es war ein Weg aus der eigenen Dunkelheit.
„Manchmal“, sagte sie leise zu sich selbst, „lügt selbst das Wasser.“ Ein Satz, der etwas in sich trug, das zwischen den leisen, rastlosen Gedanken wie ein dunkler Fluss floss.
Ben stand eine Weile schweigend daneben, dann sagte er: „Lass uns zurück gehen. Morgen ist auch noch ein Tag.“
Sie nickten einander zu, und machten sich langsam auf den Rückweg, der Nebel umschloss sie lautlos, und der Fluss floss ruhig weiter, seine Geheimnisse sicher birgend unter der glatten Oberfläche.




