Der Moment, als sie das Tempo verlor
Der kalte Abendwind wehte über den menschenleeren Bahnsteig und spielte mit den vergilbten Blättern, die vom nahen Park herübergeweht wurden. Lena stand am äußersten Rand des Betonbodens und starrte auf die Schienen. Ihr Blick verlor sich in der Ferne, wo die Gleise im goldenen Licht der untergehenden Sonne verschwanden. Die Minuten verrannen träge, wie ein zähflüssiger Stream, den der Herbst in diesem Jahr an vielen Tagen getragen hatte.
Sie zog den Mantel enger um sich, während sie wartete. Die Uhr oben am Fahrplan fiel ihr ins Auge – ein leuchtendes Gesicht, das die Zeit wie eine Drohung erschein. Sie hatte Tom hier versprochen zu treffen, und er war immer pünktlich. Immer.
Wieder lenkte sie den Blick auf ihre Schuhe, die Gedanken schweiften ab. Im Lärm ihres E-Mail-Weckers am Morgen, in der Hektik, mit der sie durch den Tag getrieben wurde, hatte sie das Gefühl für die Stunden verloren, ihr Zeitgefühl verschoben zwischen To-Do-Listen und abzugebenden Projekten. Doch hier, am Bahnhof, fühlte sich jede Minute wie ein Geschenk an.
Einen Moment lang schloss sie die Augen und lauschte den Geräuschen um sich herum: dem Rascheln der Blätter, dem fernen Hallen eines Zuges, der noch weit weg, aber deutlich auf dem Weg hierher war. Da war eine seltsame Beschaffenheit in der Schönheit dieses herbstlichen Abends, die sie umarmte wie ein längst verlorener Freund.
Es war in diesem Moment, als eine alte Frau, eine kaputte Tasche über der Schulter, auf sie zutrat. „Haben Sie kurz Zeit?“, fragte die Frau mit einer Stimme, die wie das Knistern von altem Papier klang.
Lena nickte, unwillkürlich von der Gelassenheit angezogen, die diese Frau ausstrahlte. „Was kann ich für Sie tun?“
„Es scheint, als wären Sie auch jemand, der den Zug des Lebens ein wenig verpasst hat“, sagte die Frau ohne Vorwurf, aber mit einem Lächeln. „Vielleicht wollen Sie mir ein bisschen dabei helfen, meinen zu finden.“
Sie begann ruhig zu erzählen. Ihr Name war Hilde, und sie erzählte von einem Leben voller Reisen, immer unterwegs zwischen Städten und Ländern auf der Suche nach etwas, das nie länger als einen Augenblick in ihrem Griff verweilte. „Ich hatte die Welt gesehen, aber aus dem Augenwinkel“, meinte sie. „Und jetzt bin ich hier. An einem Bahnsteig, wo die Uhr nicht mehr gegen mich tickt.“
Lena spürte, wie sich etwas in ihrem Inneren zu regen begann. Konnte sie auch? Einfach den Zug fahren lassen und sich einen Augenblick leisten?
Während sie darüber nachdachte, rauschte ein Zug in den Bahnhof, brachte den Lärm und die Hektik zurück, die unaufhörlich das leise Gespräch trennten. Aus dem Zug, der gerade zum Stillstand gekommen war, trat Tom, eine energische Gestalt, die seinerseits von den goldenen und roten Rhythmen des Herbstes umfangen war.
„Lena!“, rief er und eilte auf sie zu. Es war seine Stimme, die sie in die Gegenwart zurückrief, die wie ein Paralleluniversum klang. „Ich hoffe, du wartest nicht lange?“
„Nicht länger als nötig“, lächelte sie, jetzt mit einem neuen Ausdruck der Gelassenheit in ihren Augen, den Tom nicht kannte. Während er neben ihr stand, umfing er die Szene, bemerkte die alte Frau neben Lena und nickte freundschaftlich.
„Und wie war dein Tag, Tom?“, fragte sie, während Hilde ihnen zuzuhören schien. „Hast auch du ein bisschen Zeit verloren?“
„Vielleicht“, antwortete Tom, und verfiel kurz ins Grübeln. „Wir leben doch alle in der Illusion, dass die Zeit uns gehört, nicht wahr?“
Diesmal war es Lena, die ein wissendes Lächeln zog, das selbst die Kühle des Abends auftauen konnte. Sie wusste nun, dass sie den Moment gewonnen hatte, in dem sie das Tempo verlor – eine Lektion, unauffällig beigebracht von einer weisen, alten Frau an einem herbstlichen Bahnsteig. Hilde, die wohl noch einen anderen Zug nehmen musste, winkte ihnen zum Abschied und verschwand langsam im sanften Licht des Abends.
„Möchtest du vielleicht spazieren gehen, bevor wir heimfahren?“, schlug Tom vor, als der nächste Zug aufkreuzte.
„Ja“, stimmte Lena zu. „Ich glaube, das wäre genau das richtige Tempo jetzt.“




