Liebe zwischen zwei Sommern
Die glühende Augustsonne senkte sich langsam hinter die sanften Hügel der kleinen Mittelmeerinsel und tauchte die Terrassengärten in ein warmes goldenes Licht. Der Duft von reifen Zitronen hing schwer in der Luft, während ein sanfter Wind die Blätter des alten Baums zum Flüstern brachte. Lea zog ihre Sandalen aus und spürte den kühlen Stein unter ihren Füßen. Der Sommerurlaub, der wie eine rettende Oase nach einem anstrengenden Jahr wirkte, hatte sie hierher gebracht.
Vom oberen Garten hörte sie die tiefe, sanfte Stimme von Rafael, ihrem Nachbarn, der sich mit Isabella, der älteren Vermieterin des Anwesens, unterhielt. “Es sind diese langen, überraschenden Sommer, die die schönsten Erinnerungen hinterlassen,” sagte Isabella mit einem wissenden Nicken. Lea lächelte in sich hinein. Sie kannte diese Neigung der alten Frau, in Andeutungen und Orakeln zu sprechen.
In den letzten Tagen hatte sich eine unerwartete Vertrautheit zwischen Lea und Rafael entwickelt. Alles begann mit einem zufälligen Treffen unter dem Zitronenbaum. Er hatte sie auf Englisch angesprochen, war dann schnell zu einem charmanten Französisch gewechselt, als er ihre Herkunft erkannte. Seine dunklen Augen hatten im Licht gefunkelt, während er lachend fragte, ob sie den besseren Zitronenschaumwein schon probiert hätte.
Rafael war Künstler, Maler um genau zu sein, und seine Leidenschaft für Farben spiegelte sich in seiner Art zu sprechen wider. „Farben sind die Musik des Lichts“, hatte er einmal erklärt, während er seinen Blick über die leuchtenden Blätter streifen ließ. Lea, die Marketingexpertin aus Paris, hatte amüsiert genickt und genossen, wie er die Welt in Worten malte. Sie spürte, dass seine Lebenslust und seine Kunst einen Kontrast zu ihrem durchorganisierten Alltag bildeten, der sie unwiderstehlich anzog.
„Man fragt sich, wie oft man sich in einem Leben wirklich verlieben kann“, meinte er eines Abends.
Ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen, als ob er selbst die Antwort noch nicht kannte. Lea hatte nur mit den Schultern gezuckt, als die Dämmerung sich vollends über den Himmel legte und die erste Nachtigall zu singen begann.
Die Tage verstrichen wie eine Folge langer Nachmittage im Garten, mit leichten Gesprächen über Liebe, Kunst und das Meer. Die Sonne schien endlos, ein treuer Begleiter ihrer heimlichen Stunden. Sie erzählten sich von unerfüllten Träumen und heimlichen Sehnsüchten.
Doch mit dem nahenden Ende des Urlaubs legte sich ein Schatten über die letzten Tage. Lea wusste, dass Paris sie bald zurückrief, während Rafael durch seine wandernde Künstlerexistenz keinen festen Platz kannte. Die Unausweichlichkeit des Abschieds lag wie ein Schleier über allem. Eines Nachmittags, unter dem Zitronenbaum sitzend, fragte Rafael leise: „Wirst du zurückkommen?“
Lea zögerte. Ihre ehrliche Antwort verblieb ungesagt. Stattdessen blickte sie ihm fest in die Augen und spürte, wie die eigenen Ängste und Wünsche in ihrem Inneren aufbrandeten. Entschlossenheit lag in seiner Frage, eine Hoffnung, die zugleich von Unsicherheit getrübt war.
„Ich weiß es nicht“, gab sie endlich zu und zog tief die reife Sommerluft ein. Die Antwort war unzureichend, unvollständig, doch wahrhaftiger als ein leeres Versprechen.
Isabella, die mit einem bemerkenswerten Gespür für die Herzen jüngerer Menschen ausgestattet war, hatte sie beide liebenswürdig eingeladen, den Sommerfrieden noch ein letztes Mal mit einem gemeinsamen Abendessen zu feiern. Der Tisch war im Garten unter dem Zitronenbaum gedeckt, mit fruchtigen Weinen und duftender Pasta. Während des Essens lachten sie gemeinsam, erinnernd, betankend mit der Hitze und dem Zauber ihrer gemeinsamen Momente.
Die Nacht endete zu schnell, der Abschied schmerzte mehr, als Lea zugegeben hätte. Rafael, der sein Bedürfnis nach Freiheit schützte wie ein kostbares Geheimnis, sah betrübt aus. Doch seine Augen verrieten das leise Versprechen eines Wiedersehens. Als sie alleine in ihr Zimmer zurückkehrte, spürte sie eine stille Gewissheit, dass sie sich zwischen zwei Sommern verändert hatte.
Lange nachdem sie zurück in ihrem hektischen Alltag in Paris war, begann sie von der Insel zu träumen – von Zitronenduft und dem sanften Rauschen des Meeres. Jene Erinnerungen wärmten sie wie ein unerklärlicher Sonnenstrahl in ihrem Herzen.
Einige Monate später, als der Pariser Herbst in seinen kalten Regen überging, kam ein Umschlag ohne Absenderadresse bei ihr an. Die ungewöhnliche Handschrift, kalligrafisch und verspielt, verriet sofort den Absender. Als sie ihn öffnete, fiel eine Postkarte heraus: ein Bild des Zitronenbäumchens, unter dem sie peu à peu geliebt hatte.
„Es gibt immer noch Farben, die du nicht kennst. Rafael.“
Lea hielt die Karte lächelnd in den Händen, als sie aus dem Fenster sah, wo die ersten Schneeflocken lautlos auf die Stadt zu fielen begannen. Ihre Gedanken schlossen den Bogen, den der Sommer gezeichnet hatte, ohne jemals ganz zu enden. Ein ungesagtes Versprechen hallte nach, dass sie zurückkehren musste. Manchmal, so wusste sie nun, muss man gehen, um zu bleiben.




