Die E-Mail, die wir nie schickten
Der Winter hatte die Stadt in einen eisigen Mantel gehüllt, und die meisten Büros standen um diese Uhrzeit leer. Nur noch die warmen Lichtinseln in einigen Fenstern zeugten von letzter Betriebsamkeit. Alina saß an ihrem Shared Desk, den sie sich mit Jonas, dem Kollegen vom Marketing, teilte. Der Arbeitstag war längst vorbei, aber Stille senkte sich schwer auf den Raum, unterbrochen nur vom leisen Summen des Computers.
Das Licht der Tischlampe zeichnete weiche Schatten auf ihre Gesichtszüge, als sie eine Tasse Tee trank und gedankenverloren auf den Bildschirm starrte. Eine E-Mail – angefangen, aber nie abgeschickt – flimmerte dort wie ein Vorwurf. Alinas Finger schwebten über der Tastatur, doch der Mut, auf ‘Senden’ zu drücken, fehlte ihr.
Jonas kam mit einer dampfenden Tasse Kaffee zu ihr herüber. „Noch da?“ Sein Lächeln war entwaffnend ehrlich und ein wenig schüchtern. Alina nickte, ihre Augen hafteten einen Moment zu lange auf seinem. In seinem Blick lag eine Wärme, die sie nicht zu deuten wagte.
„Heute war’s wieder so ein Tag, oder?“, meinte Jonas beiläufig und lehnte sich an die Küchenzeile, die gleich an den gemeinsamen Arbeitsbereich angrenzte. Draußen schneite es, dicke Flocken, die die Stadt noch stiller erscheinen ließen.
„Ja, irgendwie. Nichts Dramatisches, nur…“, sie brach ab. Das Gefühl etwas auf der Zunge zu haben, aber es nicht aussprechen zu können, nagte an ihr.
„Wir sollten wahrscheinlich mal Feierabend machen. Mir kommt es vor, als ob ich schon im Nachtbus sitze, so müde fühle ich mich“, sagte Jonas und lachte leise. Sein Lachen war wohlwollend und aufrichtig.
Alina zuckte mit den Schultern. „Vielleicht sollte ich einfach diese blöde E-Mail abschicken.“
Jonas zog fragend eine Augenbraue hoch, in einer Bewegung, die sowohl Neugier als auch Ermutigung ausdrückte. „Was hält dich davon ab?“
Alina blickte verzweifelt auf den Bildschirm. „Vielleicht… die Angst, dass nichts mehr so wäre wie vorher.“
„Veränderung kann gut sein“, meinte Jonas leise. „Vielleicht ist das, was darauf folgt, genau das, was man braucht.“
Alina sah ihn an, unsicher, ob er die allgemeine Wahrheit meinte oder ob da ein persönliches Geständnis mitschwang. Im Laufe der letzten Monate waren ihm diese kleinen Momente, die meist in gemeinsamen Nachtschichten oder beim ersten Kaffee des Tages passierten, vertraut geworden. Gefühle schienen langsam eine eigene Sprache entwickelt zu haben, unausgesprochen, aber dennoch präsent.
„Ich weiß“, flüsterte sie schließlich, mehr zu sich selbst als zu ihm. „Es ist nur… ich weiß nicht, ob ich bereit dazu bin.“
„Manchmal“, begann Jonas und trat einen Schritt näher, „ist es wichtiger, den ersten Schritt zu machen, als hundertprozentig bereit zu sein.“
Diese Worte trafen sie, wie ein sanfter Windstoß mitten ins Gesicht. Alina spürte, wie sich ihre Angst langsam in etwas Greifbares auflöste – wie der Schnee, der draußen auf die Straße fiel und die Kälte ein wenig milder erscheinen ließ.
Gemeinsam brachen sie wenige Minuten später auf. Vielleicht, dachte Alina, als sie den Raum verließen, war es okay, manche Dinge einfach zu belassen wie sie waren – unausgesprochen, aber nicht weniger wichtig.
Zwischen ihnen lag im Dunkeln des Gangs ein leiser, unausgesprochener Pakt. Vielleicht würden sie diese letzte E-Mail nie verschicken, aber an diesem Abend hatten sie vieles geteilt, was ohne Worte auskam.
Während sie nebeneinander aus dem Gebäude in die frische Winterluft traten, bellte ein Hund in der Ferne. Die Nacht war still und friedlich, und der Schnee bedeckte alle möglichen Spuren, die der Tag hinterlassen hatte.
„Lass uns den Nachtbus nehmen“, sagte Alina schließlich. Es war die einen Schritt weiter, in mehr als einer Hinsicht.
Und ohne, dass es jemand von ihnen aussprach, wussten sie, dass diese E-Mail, die nie gesendet wurde, trotzdem eine wichtige Nachricht vermittelte.




