Karla Krabbe und die Flut
Es war ein warmer Sommertag am Wattenmeer, die Sonne schien hell über dem weiten Strand, als Karla Krabbe ihre kleinen Scheren in den weichen Sand bohrte. Karla lebte schon immer im Watt und hatte alle Geheimnisse dieses besonderen Ortes in ihren kleinen Krabbentagen gelernt. Die Gezeiten waren ihr vertraut, das Kommen und Gehen der Flut war ein vertrauter Rhythmus in ihrem Leben.
Doch an diesem Tag war etwas anders. Ein leichter Wind fächelte durch die Gräser am Deich, und Karla hörte das fröhliche Lachen von Tom, der über den Holzbohlenweg zum Leuchtturm rannte. “Karla!”, rief er, jubelnd über die glitzernden Pfützen springend. Tom war ein neugieriger Junge mit Sommersprossen und einer fröhlichen Lache. Sie waren schon lange Freunde, obwohl es für Tom immer wieder faszinierend war, mit Karla, der klugen Krabbe, zu plaudern.
“Heute wollen wir mal den Leuchtturm Falkenlicht besuchen”, erklärte Tom stolz. Leuchtturmwärter Finn, ein gutherziger Mann mit einem langen weißen Bart, hatte Tom eingeladen, den Turm zu besichtigen. Karla und Tom machten sich auf den Weg, begleitet vom warmen Duft von Salz und Seetang.
“Glaubst du, wir schaffen es zurück, bevor die Flut kommt?”, fragte Karla ein wenig besorgt.
Tom grinste. “Mit dir an meiner Seite, sicher!”
Der Weg zum Leuchtturm führte durch das Wattenmeer, vorbei an kleinen Wasserlachen, in denen sich Fische tummelten und Vögel vorsichtig ihre langen Schnäbel eintauchten.
Finn wartete schon am Fuß des Leuchtturms. „Willkommen, ihr beiden Abenteurer!“, rief er und seine Stimme klang wie das sanfte Rauschen der Wellen. Finn führte sie die schmale Wendeltreppe hinauf, bis sie schließlich die Aussicht genießen konnten. Der Blick über das Watt war atemberaubend: winzige Inseln, schattige Grasflächen und das endlose Meer am Horizont.
„Passt gut auf die Flut auf!“, ermahnte Finn, als sie sich wieder auf den Heimweg machten. Karla und Tom schauten besorgt auf die Wellen am Horizont, die sich langsam näher schoben.
Plötzlich bemerkte Karla, dass das Wasser schneller anstieg, als sie erwartet hatten. Die Flut war früher eingetroffen und das warme Sonnenlicht begann langsam zu verblassen. Unruhe regte sich in Karla.
“Ich glaube, die Flut kommt schneller, als wir dachten”, sagte Karla alarmiert.
Tom nickte entschlossen. „Wir bleiben zusammen, Karla!“
Schnell wateten sie durch das niedrige Wasser. Das kühle Nass umspülte Toms Füße, und Karla hielt sich dicht an seine Seite. Der Wind frischte auf, und die Vögel schwebten aufgeregt über ihre Köpfe. Doch dann sahen sie in der Ferne den sicheren Holzbohlenweg, der zum Deich führte.
Leuchtturmwärter Finn hatte sich bereits aufgemacht und kam ihnen entgegen, die silberne Glocke aus seiner Jacke läutend, um ihnen den Weg zu leiten. „Nur noch ein kleines Stück!“, rief er ermutigend.
Mit Finns Hilfe erreichten sie den sicheren Pfad, gerade als die Sonne begann, den Horizont in ein oranges Glühen zu tauchen. Ein Gefühl von Geborgenheit legte sich über die kleine Gruppe.
Nach einem letzten Blick zurück auf die sanfte Zeit der Flut und das ruhige Leuchten des Leuchtturms sagte Karla: „Zusammen sind wir wirklich stark.“
Seit diesem Tag blieben Karla und Tom stets zum Sonnenuntergang stehen, um die Schönheit des Wattenmeeres zu bewundern und sich an den Tag zu erinnern, an dem sie gemeinsam der Flut getrotzt hatten.
„Ich habe keine Angst mehr vor der Flut, wenn du bei mir bist, Karla“, flüsterte Tom, glücklich über die abenteuerliche Freundschaft.
Die Sonne verschwand sanft am Horizont, und das Wattenmeer war in goldenes Licht getaucht. Karla und Tom fühlten sich geborgen, denn zusammen konnten sie jeder Welle trotzen.




