Zwischen Atem und Meer
Der Morgennebel hüllte die Welt in eine weiche Decke aus Grau, als Eva den schmalen Pfad entlangging. Die weiche Erde unter ihren Wanderschuhen dämpfte ihre Schritte, und ihr Atem zeichnete kleine Wolken in die kalte Luft. Der Frühling kündigte sich erst zaghaft an, ein leises Versprechen von Wärme und Leben in der Kälte des Morgens.
Zu ihrer Linken fiel die Klippe steil zum Meer hinab. Die Wellen unten brandeten mit gleichmäßiger Beständigkeit an die Felsen, ein Rhythmus, der sich mit ihrem Atem vereinte. Eva blieb stehen und schloss die Augen, um auf ihren Atem zu hören. In diesem stillen Moment war ihre Brust der Taktgeber für das Universum.
Sie öffnete die Augen und nahm die Landschaft um sich herum in ihrer gesamten Fülle wahr: der milchige Himmel über ihr, die knackigen Geräusche ihrer Schritte, das Salz in der Luft, das sanft ihre Haut kitzelte. Eva fühlte sich mit jeder Pore verbunden.
Als sie weiterging, dachte sie an die vergangenen Tage, die voll gewesen waren von Lärm und Hast. In der Stadt gab es kaum eine freie Minute – der schnelle Herzschlag des Lebens auf den Straßen hielt sie in einem konstanten Zustand der Anspannung. Heute aber fühlte sie sich endlich frei. Der Weg verlangsamte ihre Gedanken, der Wind trug all die unnützen Sorgen von ihr fort.
Am Ende des Pfades, wo der Weg breiter wurde und hinab zu einem versteckten Strand führte, blieb sie stehen, um ihren Blick über das Meer schweifen zu lassen. Das Wasser glitzerte in der Ferne, gebrochen im wechselnden Licht der aufgehenden Sonne. Eva hob das Gesicht und ließ die Wärme die Kälte ihrer Wangen vertreiben.
Wie ein ferngesteuertes Ritual zog sie die Schuhe aus und trat auf den kühlen Sand. Ihre Zehen gruben sich hinein, die Kühle der Erde war ein willkommener Kontrast zur Sonne auf ihrer Haut. Der Strand war menschenleer, ein unberührter Streifen zwischen den hier thronenden Klippen.
Mit jedem Schritt das Kribbeln von tausend winzigen Sandpartikeln – eine Erinnerung an all die Male, die sie als Kind an diesen Ort gekommen war. Das Rufen der Möwen mischte sich mit der beständigen Melodie des Meeres. Es war ein Lied, unaufdringlich und dennoch allgegenwärtig.
Eva atmend tief ein, voller Sättigung durch die Meeresluft, fühlte sie, wie sich all die Anspannung von überladenen Gedanken und Pflichten auflöste. Hier, dachte sie, konnte sie ganz sich selbst sein. Der Ausblick, so weit und grenzenlos, machte ihre Seele leicht.
Sie setzte sich ans Wasser und ließ sich zurücksinken, den Kopf auf dem angewärmten Sand gebettet. Mit geschlossenen Augen lauschte sie dem Gewisper des Windes, der durch die Gräser wehte und die Geheimnisse des Meeres erzählte. In ihrem Inneren breitete sich eine tiefe Ruhe aus.
Der Morgen verging, während sie dort lag, die grenzenlose Weite des Meeres als ihre Decke, der gleichmäßige Schlag der Wellen als Schlaflied. Sie dachte an nichts und fühlte doch alles. In diesem Zustand verging die Zeit anders – langsamer, bedeutungsschwerer, wie wenn man ein lang vergessenes Buch wiederentdeckt, das bei jedem Blättern neue Geschichten preisgibt.
Als sie die Augen öffnete, stand die Sonne schon höher am Himmel. Eva setzte sich auf, klopfte den Sand von ihrer Kleidung und atmete noch einmal tief ein. Auf ihrem Weg zurück den Klippenpfad hinauf fühlte sie sich geerdet, eins mit jedem Schritt, den sie machte, und wusste, dass sie jederzeit hierher zurückkehren konnte – zwischen Atem und Meer.




