Der erste Schritt um sechs
Der Morgen graute leise über der Stadt und tauchte die leeren Straßen in ein diffuses Licht. Leo stand allein in der Küche, die noch die letzten Schatten der Nacht bewahrte. Die Luft war kühl, und das erste Vogelgezwitscher drang durch das beschlagene Fenster.
Sein Wecker hatte um Punkt sechs Uhr geklingelt, eine Entscheidung, die er am Vorabend mit Entschlossenheit traf. Doch jetzt, im Halbdunkel der Küche, schlich sich ein leichter Zweifel in seine Gedanken.
Der Geruch von frisch aufgebrühtem Kaffee begann, den Raum zu füllen, und verlieh der Dämmerung ein vertrautes Gefühl. Leo nahm einen tiefen Schluck. Ob es der Geschmack oder die leise Melancholie war, die ihn aufhorchen ließ, wusste er nicht. Er sah auf die Laufschuhe, die auf dem Fußboden standen, als warteten sie nur auf ihren ersten Einsatz.
Er fuhr sich mit der Hand durch das zerzauste Haar und spürte den erwartungsvollen Druck auf seiner Brust. Der erste Schritt sei der schwerste, hatte er oft gehört. Jetzt war es Zeit, diese Worte mit Leben zu füllen.
„Du brauchst das“, sagte er leise zu sich selbst und schlüpfte in die Schuhe. Die kühle Innensohle fühlte sich merkwürdig vertraut und doch neu an. Es war Frühling, der Beginn eines neuen Zyklus, und Leo wollte seinen eigenen Neubeginn spüren.
Die Straße vor seinem Haus lag verlassen da, während die ersten Sonnenstrahlen zaghaft über die Ziegeldächer krochen. Die Luft war frisch, mit einem Hauch von Versprechen. Als er zu laufen begann, orientierte er sich an den regelmäßigen Schritten und dem sanften Rhythmus seines Atems.
Was bedeutete dieser erste Lauf? Für Leo war es mehr als ein gesundheitliches Ziel. Er sehnte sich nach Veränderung, und dieses Laufen war sein Einstieg in ein neues Kapitel. Ein Schritt zur Selbstwirksamkeit, zur Kontrolle über seinen eigenen Weg.
Die Blumen am Straßenrand kämpften sich durch die Risse im Asphalt, als wollten sie ihm sagen, dass auch sie ihren Platz im Leben fanden. Leo lächelte bei diesem Anblick, als er die Nachbarschaft hinter sich ließ.
Er fand seinen Rhythmus und ließ die Gedanken fließen, befreit von der Schwere des Alltags. Mit jedem Schritt fühlte er die Schichten der Unsicherheit von ihm abfallen, als würde er eine lange getragene, schwere Jacke ablegen.
Inmitten dieser Gedanken kam er an einem kleinen Park vorbei. Das Gras war noch feucht vom Morgentau, und der Duft erinnerte ihn an unbeschwerte Kindertage. Er blieb kurz stehen, um den Moment aufzusaugen.
„Jeder Weg beginnt irgendwo“, murmelte Leo, mehr zu sich selbst als zu irgendjemandem sonst. Und genau da, in diesem Augenblick, wurde ihm klar, dass es nicht nur der Lauf war, sondern dieser Morgen, der ihn veränderte. Seine Entscheidung, sein Handeln, führten ihn weiter als er jemals gedacht hatte.
Mit einem tiefen Atemzug machte er sich wieder auf den Weg nach Hause. Die Sonne stand jetzt etwas höher, goldene Strahlen beleuchteten die kleinen Blätter, die sich leise raschelnd im Wind bewegten. In der Küche angekommen, legte er die Schuhe zurück an ihren Platz.
Das Gefühl, etwas erreichen zu können, war stärker als die Müdigkeit, die ihm in den Knochen lag. Der erste Schritt um sechs hatte sein inneres Verlangen nach einer neuen Zukunft eingelöst. Zuversichtlich nahm er die Tasse Kaffee erneut in die Hand und spürte die Ruhe des Erfolges.
„Jeder Weg beginnt heute“, dachte er, während er aus dem Fenster auf den neu erwachenden Tag blickte.




