Kalte Spur im Sommer
Der Sommer hatte die Kleinstadt fest im Griff. Es war ein typischer Abend, an dem alles stillzustehen schien, und das Licht der tief stehenden Sonne lange Schatten über den See warf. Jara saß am Ufer des kleinen Sees, die Füße im kühlen Wasser, und ließ den hektischen Tag Revue passieren.
Die warme Brise strich ihr durchs Haar, während sie das alte Bootshaus auf der gegenüberliegenden Seite des Sees musterte. Es war ein Ort voller Erinnerungen, unter anderem auch der unschöneren Art. Hier hatte alles angefangen, das wusste sie.
Polizist Tom, der langjährige Wachtmeister der Stadt, hatte sich unbemerkt zu ihr gesellt. Sein Gesicht war von der Nachmittagssonne gerötet und in seinen Augen lag ein Ausdruck, den Jara nur allzu gut kannte – tiefes Grübeln über vergangene Fälle, die nie abgeschlossen worden waren.
“Es fühlt sich manchmal an, als wäre er noch immer hier, weißt du?” Toms Stimme durchbrach die Stille, während er zu Jara herunterblickte.
Jara nickte langsam, hielt ihren Blick jedoch starr auf den See gerichtet. “Manche Orte vergessen nicht, Tom. Irgendwie bewahren sie das, was war.”
Tom setzte sich in den Sand und starrte auf die unruhige Wasseroberfläche. “Es gibt immer noch keine Spur von ihm. Es ist, als hätte ihn der See einfach verschluckt und nie wieder ausgespuckt.”
“Vielleicht hat er nie wirklich gelebt, wie wir anderen es tun”, murmelte Jara, die nun einen Stein ins Wasser warf, um die plötzliche Beklommenheit zu vertreiben.
Die umstehenden Ferienhäuser strahlten jene Art stiller Abgeschiedenheit aus, die mit der Ankunft der Nacht nur noch intensivierter wirkte. Damals in jenem Sommer, war die Stadt in Aufruhr gewesen, die Vermisstenanzeige, die Suche, die Spekulationen. Doch die Spur war wie vom Winde verweht – ein Gespenst, das die Dörfler im Dunkeln hielt.
Der Gedanke an die Ereignisse von vor Jahren ließ einen kalten Schauer über ihren Rücken laufen, und selbst die Wärme des Abends konnte ihn nicht vertreiben. “Es gab immer diesen einen Punkt, an dem sich alles hätte ändern können, oder? Einen entscheidenden Moment, den niemand bemerkt hat.”
Tom seufzte. “Ja, so scheint es jedenfalls. Wir suchten überall, aber als wir kälter wurden, wurden die Spuren auch. Kalte Fälle in der Sommerhitze.”
Ein Boot, das über den See glitt, brach die nachdenkliche Stille. Kinderlachen hallte an das Ufer zurück und lenkte beide für einen kurzen Moment ab.
“Weißt du, was ich mich immer frage?”, setzte Jara an, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. “Wie viele Menschen vorbei gegangen sind, ohne zu merken, was wirklich passiert ist?”
Tom zuckte mit den Schultern. “Zu viele. Die Menschen wollen die Realität nicht sehen, selbst wenn sie direkt vor ihnen liegt. Es ist leichter, wegzuschauen, zu vergessen.”
Eine Weile saßen sie schweigend, verloren im Sog ihrer eigenen Gedanken. Der Abend legte sich sanft wie ein Schleier über das Land und die Geräusche der Natur übernahmen die Kulisse.
“Es sind die Geschichten, die wir uns selbst erzählen, die bleiben”, meinte Jara schließlich. “Es gibt keine wirkliche Auflösung, oder? Nur die Akzeptanz dessen, was wir nicht ändern können.”
Tom nickte zustimmend und erhob sich, die feinen Sandkörner von seinen Händen klopfend. “Vielleicht ist es genau das, was uns ausmacht – dass wir bei allem Verlust immer noch weitermachen.”
Jara erhob sich ebenfalls und warf einen letzten Blick auf das schwächer werdende Licht, das den See illuminierte. Die Spur mochte kalt sein, das Leben ging weiter. Und manchmal, dachte sie, war genau das genug.
In der schwindenden Abendsonne gingen sie in Richtung der alten Holzhäuser zurück, wo an diesem lauen Sommerabend die Geschichten weitererzählt werden würden, die niemals enden wollen.




