Schnee über den Schreibtischen
Der Schneefall begann in den frühen Morgenstunden, als die Stadt noch in grauem Halbschlaf lag. Ein dicker, weicher Teppich legte sich über die Straßen und dämpfte jeden Laut. Lea stand vor dem Panoramafenster ihres Büros, die heiße Kaffeetasse in den Händen, die Wärme strahlte bis zu den Fingerspitzen.
Ihr Arbeitsplatz befand sich im 12. Stock eines modernen Bürogebäudes. Die gläsernen Fronten gaben den Blick auf die weiße Stadt frei, und es schien, als hätte sich die ganze Welt ein wenig langsamer gedreht. ‘Entschleunigung’, dachte sie und lächelte. Im Büro selbst war es ungewöhnlich still, der Lärm des Tagesverkehrs blieb aus und nur eine Handvoll Kollegen hatte sich heute über die verschneiten Straßen ins Büro gewagt.
Jonas war schon da, wie immer der Erste. Sein Schreibtisch war übersäht mit Notizen, farbige Marker ragten wie bunte Federn aus den Papierstapeln hervor. Sie hatte nie verstehen können, wie jemand in so einem Chaos arbeiten konnte, doch Jonas schien den Überblick zu behalten. Sie mochte seine ruhige Professionalität, die Art, wie er mit allem in seinem Tempo umging.
“Morgen, Lea,” sagte er, ohne den Blick von seinem Bildschirm abzuwenden. “Ganz schön was los da draußen, oder?”
“Ja, ein richtiger Wintertag. Da bekommen die Menschen wieder Zeit zum Durchatmen,” antwortete Lea und trat an seinen Schreibtisch heran.
Er lehnte sich zurück und sah sie an, ein warmes Lächeln auf den Lippen. “Sollte man meinen. Trotzdem hecheln alle den Terminen hinterher. Aber heute… heute vielleicht nicht.”
Lea nickte und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. “Heute scheinen sie alle lieber drinnen zu bleiben.”
Sie betrachtete eine Weile die Schneeflocken, die in einem hypnotischen Tanz vor dem Fenster wirbelten. Jedes schien seinen eigenen Weg zu gehen, und doch fügten sie sich zu einer einheitlichen Pracht zusammen. Ihre Gedanken drifteten wie die Flocken, leicht und frei, weg von den täglichen Verpflichtungen, hinein in eine Welt, die sich sanft neu ordnete.
Jonas’ Stimme riss sie aus ihrem Tagtraum. “Wollen wir eine Pause machen? Ich hab gehört, der Ausblick vom Dach soll heute fantastisch sein.”
Lea war überrascht, aber die Idee gefiel ihr. “Gerne, lass uns einen Moment rausgehen.”
Er stand auf, und gemeinsam gingen sie durch die fast leeren Flure. Ihre Schritte hallten leise wider, das sterile Licht der Neonröhren vermischte sich mit dem natürlichen Glanz des Schnees, der durch die Fenster fiel. Als sie die Tür zum Dach öffneten, wehte ihnen eine kalte Brise entgegen, aufgeladen mit dem scharfen Duft des Winters.
Von hier oben war die Stadt ein zarter Kontrast aus weißen Dächern und kahlen Baumkronen, die sich dem grauen Himmel entgegenstreckten. Lea zog den Kragen ihrer Jacke höher und schlang die Arme um ihren Körper. Jonas stand neben ihr, seine Hände tief in den Taschen seines Mantels vergraben.
Sie schwiegen eine Weile, genossen den Anblick und die überraschende Stille über der sonst so hektischen Stadt. Es war fast so, als wäre die Zeit stehen geblieben, als würde die Welt in gespannter Erwartung auf etwas Unbestimmtes warten.
“Es ist schön hier,” sagte sie schließlich und sah Jonas an.
“Ja, manchmal braucht es nicht viel, um eine andere Perspektive zu gewinnen,” antwortete er, ohne den Blick von der schneebedeckten Landschaft abzuwenden. “Vielleicht sollte man öfters dort hinsehen, wo der Blick frei ist.”
Lea lächelte sanft und fühlte eine leise Verbindung zwischen ihnen, zart wie die Flocken, die ihren Weg fanden, um zusammen ein Bild zu formen. An diesem stillen Wintertag im Büro hatten sie etwas gefunden, das ihnen bis dahin entgangen war: den Raum, die Ruhe und die Zeit, sich wahrzunehmen.
Zurück an den Schreibtischen, fiel das Nachmittagslicht weicher durch die Fenster. Die Arbeit ging weiter, doch der Ton hatte sich verändert, langsamer, bewusster. Lea spürte eine Leichtigkeit in ihrer Brust, die sie seit Langem nicht mehr gefühlt hatte. Die Erfahrung, dass die Welt nicht immer einem hastigen Rhythmus folgen muss, schenkte ihr neue Kraft.
Zum Feierabend, als sie ihre Jacke überzog, sah sie zu Jonas. “Schönes Wochenende, Jonas.”
Er lächelte und nickte. “Dir auch, Lea. Und denk dran, manchmal reicht ein Blick nach draußen.”
Mit diesen Worten verließ sie das Bürogebäude, ein Gefühl von Wärme trotz der klirrenden Kälte, zurückblickend auf einen Tag, der sich in seiner Bescheidenheit als unvergesslich herausstellte.




