Der Fremde im Flockenmantel
Der Schnee fiel in dichten Flocken und bedeckte die Pflastersteine des Stadtplatzes unter einer wolkigen Decke. Die eisigen Windböen fegten unermüdlich über die leeren Straßen und ließen die Laternen hypnotisch pendeln. Rafi zog seinen Schal enger um den Hals und drückte seine Hände tiefer in die Taschen seines Mantels. Es war einer jener Abende, an dem die Welt in einen weißen Schleier getaucht und die Unruhe der Stadt gedämpft wirkte.
Er blieb unter dem alten Uhrturm stehen, seine Zeiger blieben auf zehn Minuten nach acht stehen. Rafi starrte in den Winterhimmel, wo die Schneeflocken aus den dichten Wolken herabfielen. Ein plötzlicher Schatten in seinem peripheren Blick brachte seine Gedanken zurück auf den Platz.
Dort, inmitten der tanzenden Flocken, stand eine Gestalt. Gekleidet in einen Mantel, so gepudert und verschneit, dass sie eins mit der winterlichen Landschaft zu sein schien. Die Kapuze verdeckte die Gesichtszüge des Fremden, nur ein schwacher Schimmer von Augen blickten heraus.
“Eine seltsame Nacht, nicht wahr?” Die Stimme des Fremden klang wie das Wispern von Schneekristallen, die auf einer Fensterscheibe zerrinnen.
“Ja, ziemlich ungewöhnlich,” antwortete Rafi, unsicher, ob er näher treten sollte. Doch seine Neugier hielt ihn an Ort und Stelle.
Der Fremde neigte leicht den Kopf und sprach weiter: “Du ziehst den Schnee vor der Wärme vor, sehe ich. Warum, wenn ich fragen darf?”
“Es ist die Ruhe,” gestand Rafi nach kurzem Zögern, “Der Winter hat eine Art die Welt zu beruhigen, sie von all ihrem Lärm zu befreien.”
Der Fremde lächelte, oder vielleicht bildete sich Rafi das auch nur ein. “Die Ruhe birgt Geheimnisse, die nur der Schnee enthüllen kann,” flüsterte die Gestalt fast zu sich selbst.
Rafi hatte das merkwürdige Gefühl, dass er nicht allein wegen der Kälte fröstelte. Etwas an der Gegenwart des Fremden war beruhigend und beunruhigend zugleich.
“Verbirgt der Schnee Geheimnisse vor mir oder vor anderen?”, hakte Rafi nach, spürend, dass er die Antwort kannte, aber sie dennoch hören wollte.
“Vor denen, die lernen wollen, hinzusehen,” antwortete die Gestalt, bevor sie eine Hand hob und sich ein einzelner Schneeflocken auf ihren Finger setzte. „Was siehst du, wenn du einen Flocken anschaust?“
„Ein winziges Wunder,“ sagte Rafi, „eine vergängliche Schönheit, bevor sie im Druntergehen verschwindet.“
„Genau das. Aber sie kehren zurück, nicht wahr? Aus derselben Wolke oder einer neuen, sie sind niemals wirklich fort.”
Rafi lächelte schwach. “Vielleicht erwarte ich doch etwas Ungewöhnliches, jedes Mal, wenn ich in den Schnee gehe.”
Die Gestalt trat einen Schritt zurück, als würde sie mit dem Wind verschmelzen. “Vielleicht reicht es, zu wissen, dass nicht jede Furcht wahr ist. Dank dir, dass du angehalten hast.”
Rafi blinzelte und schaute sich um. Der Platz war leer. Die Uhr über ihm tickte unaufhaltsam weiter, und es war fast so, als wäre der ganze Schneesturm nur eine Phantasie gewesen.
Dennoch, als er sich umdrehte und seinen Weg durch den weißen Wirbel fortsetzte, fühlte sich die Kälte weniger schneidend an. Die Stadt war ihm familiär und doch neu zugleich. In dieser Nacht wusste er, dass die Geheimnisse des Winters nicht länger unnahbar waren.




