Das Lied der Winterrunen
Im Herzen des winterlichen Waldes lag ein uralter Tempel, dessen Mauern selbst Klänge der Vergangenheit zu flüstern schienen. Der Schnee hatte ihn in eine kühle Umarmung gehüllt, und das Nordlicht tanzte wie ein stilles Versprechen über dem Runenkreis, der den Tempel umgab.
Nyra stand am Rande dieses Kreises, ihr Atem formte kleine Wölkchen in der eisigen Luft. Seit Tagen zog es sie unwiderstehlich hierher, als würde etwas tief in ihrem Inneren nach dem Lied dieser Runen rufen. Die Kälte biss in ihre Wangen, die Stille des Waldes pulsierte um sie herum, nur das leise Knirschen des Schnees unter ihren Füßen begleitete sie.
Jorin war verschwunden, so sagte man. Ein Opfer, das der Wald forderte, oder ein Wanderer, der das Licht in sich verloren hatte. Sie kannte ihn aus Kindertagen, seine unergründlichen Augen und sein Lächeln, das immer eine Spur Geheimnis trug. Tief in ihrem Herzen spürte Nyra eine Verbindung, die nicht losließ.
Ihre Finger strichen über die kalten Runensteine, und plötzlich verstummten die Geräusche des Waldes. Ein Wispern, kaum hörbar, stieg auf. Die Runen erwachten, Licht bahnte sich seinen Weg durch uralte Risse auf ihrem schroffen Gesicht. Nyra trat zurück, ihr Herz pochte heftig in ihrer Brust.
„Nyra“, rief eine Stimme in der Dunkelheit. Sie wirbelte herum, doch der Wald lag still. Kein Windhauch, der die Zweige hätte bewegen können. „Jorin?“ flüsterte sie, unsicher, ob es ihre Einbildung war oder der Wald selbst, der zu ihr sprach.
Langsam trat eine Gestalt aus den Schatten. Jorin, sein Gesicht von einer seltsamen Blässe gezeichnet, seine Augen leuchtend wie die Runen. „Du hast mich gerufen“, sagte er und schaute sie mit einer Mischung aus Trauer und Erkenntnis an.
„Jorin, ich habe dich gesucht. Wo warst du?“ Ihre Worte waren kaum mehr als ein Hauch, eine Nähe, die sie in den wogenden Lichtern des Himmels umspannte.
„In den Liedern der Runen“, erwiderte er, ein Hauch von Melancholie in seiner Stimme. „Sie offenbarten mir, was ich opfern musste, um die Stimmen des Waldes zu hören. Und jetzt bist du hier, Teil dieser Geschichte.“
Nyra spürte das Ziehen in ihrem Innersten, die Wahl, die unausweichlich schien. „Ich verstehe“, antwortete sie leise, Körper und Geist vom kalten Schein der Magie erfasst. Der Kreis war vollständig.
Ihre Hände zitterten, als Jorin sie sanft hielt. „Das Lied ist älter als wir beide, älter als jeder Winter. Es verlangt Opfer, mein Herz, aber es schenken auch Erkenntnis und Wandlung.“
In dieser Nacht, da sie Seite an Seite in der Mitte des Runenkreises standen, wurde die Zeit zu einem fragilen Band, das sich über sie legte. Das Nordlicht strich über ihre Gestalten, und der Schnee hörte auf, zwischen ihnen zu fallen. Ihre Seelen, wie die Runensteine, verbanden sich in einem Lied, dessen Melodie für die Welt unsichtbar, für sie jedoch ewig war.
Der Morgen brach an, und als das erste Licht die Schatten brach, blieb Nyra allein im Kreis zurück. Das Gefühl von Jorins Hand lag noch leicht in ihrer. Alles um sie herum war verändert, doch der Wald raunte weiter, ein Versprechen, zu kommen und zu sehen.
Die Magie hatte ihren Preis gefordert, doch sie wusste, sie würde mit einem Herz zurückgehen.
Nyra verließ den Tempel in dieser neuen Morgenstille, die Sterne verblassten. In ihrem Inneren klang das Lied der Winterrunen weiter, ein ewiges Echo, das den Weg wies.




