Die Kerze, die Geschichten erzählte
Draußen fiel der Schnee in dichten Flocken, die langsam vor dem Fenster herabsanken. Drinnen, im warmen Wohnzimmer, flackerte das Licht einer einzelnen Kerze, die ihren sanften Schein auf den kleinen Holztisch warf.
Lina kuschelte sich tiefer in die weiche Decke auf dem Sofa, während ihre Oma den Tee in zwei Tassen einschenkte. Der verlockende Duft von Pfefferminz stieg in die Luft und vermischte sich mit dem unterschwelligen Duft von Zimtsternen, die auf einem Teller bereitlagen.
“Oma, erzählst du mir heute eine Geschichte?”, fragte Lina mit leuchtenden Augen.
Oma lächelte sanft und setzte sich neben ihre Enkelin. “Natürlich, meine Kleine. Erinnerst du dich an die magische Kerze, von der ich dir erzählt habe?” Lina nickte eifrig. “Das ist sie”, sagte Oma und zeigte auf die Kerze, deren Flamme ruhig flackerte, als ob sie Linas Interesse spürte.
Die Kerze stand auf einem alten silbernen Kerzenständer, der Geschichten aus längst vergangenen Zeiten in sich zu tragen schien. Das Licht, das sie verströmte, war warm und beruhigend, und die Schatten tanzten leise an den Wänden.
“Diese Kerze kann Geschichten erzählen”, begann Oma geheimnisvoll. “Wenn du ganz still bist und lauscht, wirst du dich wundern, was sie alles in die Dunkelheit flüstert.”
Lina kuschelte sich näher an ihre Oma und lauschte aufmerksam, während die Flamme leicht zischte, als würde sie zu flüstern beginnen. Das Zimmer füllte sich mit einer sonderbaren Ruhe, nur unterbrochen vom gelegentlichen Knistern des brennenden Dochtes.
“Es war einmal, in einer längst vergangenen Zeit”, begann Oma, scheinbar aus der Erinnerung der Kerze heraus. “Da lebte ein kleiner Junge namens Paul in einem Dorf, das dem Winter nie entkam. Nacht für Nacht erzählte ihm seine Großmutter Geschichten über die glitzernden Sterne und die Märchenwelten, die hinter ihnen lagen.”
Lina schloss die Augen und stellte sich vor, wie der kleine Paul an einem eisigen Fenster stand, gespannt den Worten seiner Großmutter zuhörend. Die Bilder, die Lina in ihrem Kopf sah, wirkten so lebendig, dass sie das Knirschen des Schnees unter ihren Füßen spüren konnte, als ob sie neben Paul im Dorf aus der Geschichte stand.
Oma strich sanft durch Linas Haare, und ihre Stimme war leise und klar in der gemütlichen Stille des Zimmers.
“Und eines Nachts, als der Wind draußen heulte und der Schnee die Welt bedeckte, hörte Paul ein murmeliges Flüstern von der Kerze auf der Fensterbank. Es war eine Geschichte, die von längst vergessenen Wintern erzählte”, fuhr Oma fort.
Lina öffnete langsam ihre Augen und sah zu, wie die warme, schimmernde Flamme der Kerze weiterhin die dunklen Ecken des Raumes beleuchtete. Ihr Herz füllte sich mit einer tiefen Geborgenheit.
“Die Kerze erzählte Paul von einer geheimnisvollen Schneekönigin, die nur jene sah, die offenen Herzens waren”, sagte Oma und schaute liebevoll auf Lina herab. “Er war neugierig und stellte all sein Vertrauen in die flüsternde Kerze, die ihm Hoffnung und Mut schenkte, während er durch die kalten Winternächte ging.”
Lina spürte wie die Müdigkeit sachte über sie kam, angesteckt von der sanften Wärme der Erzählung. Sie kuschelte sich noch tiefer in die Decke ein.
“Glaubst du, unsere Kerze hier hat auch solchen Mut?”, fragte sie verschlafen.
Oma lächelte und nickte. “Unsere Kerze bewahrt all die Geschichten auf, die wir erzählen. Und wenn wir ihnen zuhören, geben sie uns Mut und Geborgenheit zurück. Genau wie bei Paul.”
Die Flamme flackerte ein letztes Mal, bevor sie ruhig weiter brannte, als ob sie wusste, dass ihre Botschaft bei Lina angekommen war. Die wohlige Wärme des Zimmers und die Sanftheit der Geschichte legten sich wie ein schützender Kokon um das kleine Mädchen.
Oma zog die Decke etwas höher über Lina und flüsterte, als das Mädchen langsam in den Schlaf glitt: “Geschichten tragen uns durch die Nacht, meine kleine Lina.”
Draußen fiel der Schnee noch immer, leise und sanft, während im Raum einzig das friedliche Knistern der Kerze zu hören war. Das Zimmer tauchte in eine tiefe, ruhige Dunkelheit, und der Morgen versprach bereits die Möglichkeit weiterer Geschichten, versteckt hinter dem leisen Flüstern einer bunten Kerzennacht.




