Die letzte Akte vor Heiligabend
Clara saß an ihrem Schreibtisch und schaute aus der großen Fensterfront hinaus. Die Schneeflocken wirbelten wild in der Dunkelheit, getrieben vom schneidend kalten Wind, der die Straßen von München leergefegt hatte. Die Schreibtischlampe war das einzige Licht in dem verlassenen Großraumbüro. Ihre Augen brannten von der langen Sitzzeit vor dem Bildschirm, und das gleichmäßige Summen des Luftzirkulators verstärkte das Gefühl von Zeitlosigkeit.
Sie hatte gehofft, heute früher gehen zu können. Der vorabendliche Weihnachtsverkehr tat sein Übriges, um die Räume noch verwaister wirken zu lassen, als sie in Wirklichkeit waren. Nur ein Schreibtisch weiter saß Jonas, ihr Kollege, tätig über eine ebenso schwere Aktenmappe gebeugt.
„Clara, hast du die Präsentation für den Kunden nächste Woche fertig?“, bellte Herr Reiter, als wäre er eben erst bemerkt geworden, das Büro sei noch immer seine kleine Festung. Die Frage hatte mehr von einer Anklage als von einer höflichen Anfrage. Ihr Chef war bekannt für seine wenig weihnachtliche Stimmung, die sich spätestens im November einstellte und bis Januar anhielt.
„Fast fertig, ich will nur einmal alles querlesen. Auch Ihnen eine schöne Weihnachtszeit, Herr Reiter“, sagte Clara, bemüht um einen neutralen, nicht zu herausfordernden Ton.
Mit einem resignierten Nicken zog er sich in sein Büro zurück, ließ aber die Tür offen, als wollte er kundtun, dass der Arbeitstag noch längst nicht vorbei war.
Es geht nicht nur um Arbeit, dachte Clara und starrte hinaus in die Straßen. In neun Stunden würde es Heiligabend sein, und sie hatte versprochen, für ein Weihnachtsessen bei ihrer Schwester in Nürnberg zu sein.
Wenigstens, dachte sie ironisch, war die Schneepracht vor den Fenstern wie aus einer idyllischen Winterszene aus einem Film. Nur dass sie nicht mitspielt, sondern es in Schweiß treibender Überstunden verbringt.
„Lange Nacht, was?“, versuchte Jonas zu scherzen und wandte sich ihr zu. „Hättest du Lust auf einen Kaffee? Die Maschine hier produziert nicht mehr als lauwarme Brühe, aber es wäre ein Anfang.“
Clara sah ihn sekundenlang an und musste dann lächeln. „Weißt du, ehrlich gesagt, hätte ich jetzt mehr Lust auf Glühwein. Glaubst du, wir könnten eine kleine Rebellion starten? Einfach gehen und die Arbeit sein lassen?“
Jonas nickte langsam, während er ihre Gedanken abschätzte. „Rebellion klingt verlockend. Wusste gar nicht, dass du eine geheime Anarchistin in dir hast, Clara.“
Ein Lächeln huschte über Claras Lippen. „Manchmal muss man einfach Prioritäten setzen“, fuhr sie fort, während sich in ihrem Kopf das innere Ringen weiter fortsetzte: die endlose Verpflichtung gegen die persönliche Freiheit.
„Willst du mir raushelfen? Vielleicht ist es an der Zeit, diesen Plan in die Tat umzusetzen.“
Sie stand auf, schaltete ihren Computer aus und schloss mit einem entschlossenen Schnappen den Laptopdeckel. Ihr Herz pochte, als sie ihre Tasche nahm und in der stillen Bürocafeteria Glühwein kochte. Jonas folgte ihr, mit seiner eigenen Tasche und einem zufriedenen Ausdruck.
Zurück am Schreibtisch sah sie Herrn Reiter immer noch in sein Telefon versunken. Die Bürotür stand weit offen, als wäre es eine Einladung zu bleiben und weiterzumachen, aber Clara wusste, dass es auch anders gehen musste.
„Herr Reiter, ich wünsche Ihnen eine frohe Weihnacht“, sagte Clara, als sie durch die Tür trat, Jonas an ihrer Seite.
Herr Reiter sah überrascht auf. „Gehen Sie schon? Die Präsentation…“
Clara unterbrach ihn sanft, doch bestimmt. „Ich werde die letzten Details morgen aus Nürnberg per Laptop erledigen. Ein schönes Weihnachtsfest!“
Sie verließen das Büro. Die Kälte wickelte sich augenblicklich um sie, doch Clara fühlte sich freier, als der Schnee auch über sie tanzte.
Im Inneren der Cafeteria wuchs der Duft von Glühwein und vermischte sich mit Erinnerungen an vergangene Weihnachten. Clara und Jonas standen Seite an Seite, leicht zitternd in der Kälte, die jedoch mehr vom Gefühl der Befreiung genährt war als von den winterlichen Temperaturen.
„Weißt du was, Clara?“, begann Jonas, als sie einander zuprosteten und den ersten Schluck nahmen. „Du schaffst definitiv Leben in die Bude.“
„War wohl das Beste, was wir heute machen konnten“, stimmte Clara ihm zu.
Das klopfen des eigenen Herzens gegen die Brust drückte noch den Streß der letzten Wochen aus ihnen, doch langsam begannen sie zu entspannen. Die Stadt, eingefroren im Winterschlaf, spiegelte die Ruhe wider, die Clara nun bewusst wurde.
„Es gibt wichtigere Dinge als Akten, nicht wahr?“, fragte Clara, als der Zug, der sie nach Nürnberg bringen würde, sich näherte.
„Gibt es“, bestätigte Jonas. Sein Lächeln war warm und aufrichtig, als der Zug mit einem dröhnenden Stoppsignal zum Stehen kam. „Und das Schöne ist, dass du das auch siehst.“
Mit einem letzten Gruß trennten sich ihre Wege vorerst, beide wissend, dass einige Entscheidungen auch genauso hätten anders ausfallen können, aber dass dies nicht der Fall war.




