Stille zwischen den Jahren
Tom saß allein im Wohnzimmer, das Licht der Kerzen flackerte sanft über den Tisch, auf dem der Kalender für das kommende Jahr lag, noch unberührt und leer. Draußen tobte ein Schneesturm, der die Fenster mit einem dünnen weißen Schleier bedeckte. Der wärmende Schein der Flammen bracht eine behagliche Ruhe in den Raum, während das Heulen des Windes draußen eine stille Einsamkeit suggerierte.
Es war die Zeit zwischen den Jahren, jene mystische Periode nach Weihnachten und vor dem neuen Jahr, in der alles stillzustehen schien, und Tom nutzte sie, um über die vergangenen Monate nachzudenken. Ein Gefühl der Erleichterung und des Bedauerns lag zugleich in der Luft, als er an unerreichte Ziele dachte, an Versprechen, die er sich selbst gegeben, und wieder gebrochen hatte. Doch er spürte auch die Möglichkeit des Neuanfangs.
Lea, seine Schwester, hatte sich mit einem Buch in den Sessel zurückgezogen. Sie liebte diese stillen Momente, die Intimität des Lesens, während der Duft von Zimt und Tannengrün den Raum erfüllte. Sie blickte auf, als Tom seufzte. “Denken über das Jahr nach?” fragte sie sanft, und er nickte nur knapp.
“Fühlst du dich gefangen im Dazwischen oder frei?”
Ihre Frage überrumpelte ihn. “Vielleicht beides. Es ist, als würde man an der Kante eines Kliffs stehen, nicht sicher, ob man springen oder nur tief einatmen soll.”
Lea lächelte. “Die meisten Menschen hetzen immer nur von einem Jahr ins nächste, ohne innezuhalten. Aber diese Ruhe zwischen den Jahren gibt uns die Gelegenheit, uns selbst zu begegnen.”
Tom reflektierte über ihre Worte, während er einen Tee einschenkte, dessen Dampf in kleinen Schlieren aufstieg. Lea war stets eine Art Anker in seinem unruhigen Leben gewesen. Ihre Fähigkeit, alles mit einer Gelassenheit zu sehen, die ihm oft fehlte, bewunderte er zutiefst.
Plötzlich klopfte es leise an der Tür, und die Nachbarin Frau Weiss trat ein, fast von den Flocken umhüllt, die sich auf ihrem Mantel niederließen. Sie war eine stille, aber präsente Kraft im Haus, immer bereit mit einem freundlichen Wort oder einer warmen Suppe. “Entschuldigt die Störung, Kinder, ich wollte nur ein wenig von meiner Linsensuppe bringen. Nichts wärmt so an einem Abend wie diesem.”
“Vielen Dank, Frau Weiss,” sagte Lea, während Tom die Gabe entgegen nahm. Die Suppe dampfte, ihr Aroma erfüllte das Wohnzimmer und vermittelte ein Gefühl der Geborgenheit und Gemeinschaft.
Frau Weiss setzte sich für einen Moment zu ihnen, und sie sprachen leise über die kleinen Dinge des Lebens, die oft übersehen werden – Vergangenes und Kommendes. Ihr Besuch, so kurz er auch war, brachte eine angenehme Wärme in ihre Seelen, eine Erinnerung daran, dass man nicht alleine auf dieser Reise war.
Als die Nacht fortschritt, setzte sich Tom zurück, blickte in die Flammen und dachte über die Worte seiner Schwester und der Nachbarin nach. Er erkannte, dass es nicht nur die Momente des Umbruchs waren, die ihn formten, sondern auch diese stillen Pausen dazwischen, in denen er die Richtung neu ausrichten konnte.
“Es ist seltsam,” sagte er schließlich, als die Nacht tiefer wurde. “Aber vielleicht sollte ich viel öfter keine Pläne machen. Einfach nur sein.”
“Manchmal ist es genug, sich selbst zu erlauben, zu atmen,” entgegnete Lea, ihre Stimme sanft wie die flackernden Schatten der Kerzen um sie herum.
Der Schneesturm draußen war abgeflaut, und eine friedliche Stille legte sich über die Stadt. Das alte Jahr verblasste langsam, so wie die Kerzen, die herunterbrannten, und sie alle saßen noch lange in dieser behaglichen Ruhe zusammen, dankbar für die Stille zwischen den Jahren.




