Der rote Schal am Bahnsteig
Der Schnee legte sich in zarten Flocken auf die Gleise, während die Morgendämmerung den Horizont sanft erleuchtete. Miro zog seinen Schal fester um den Hals und sah den Atemwolken nach, die wie kleine Nebel vor ihm in der kalten Luft schwebten.
Die eingefrorenen Weichen und rostigen Schienen glänzten unter der schwachen Beleuchtung des Bahnsteigs. Es war ein typischer Wintermorgen, schweigsam und träge, als würde die Zeit selbst in Watte gepackt schlafen.
„Miro!“ Ein freundlicher Klaps auf die Schulter riss ihn aus seinen Gedanken. Jens, Kollege und alter Wegbegleiter, trat neben ihn und grinste. „Schon wieder in Gedanken verloren?“
„Ja, irgendwie…“ Miro lächelte schwach, ein Reflex mehr als echte Freude. Er ließ den Blick über die Gleise schweifen. Die Menschen, die wie er auf den Zug warteten, standen in abgeriegelten Grüppchen zusammen. Die Übergangsjacken hatten es längst mit den dicken, wasserdichten Mänteln getauscht. Jeder hielt sich an dem Kaffebecher oder Smartphone fest, wie ein Boot in rauem Seegang.
„Du machst dir viel zu viele Gedanken.“ Jens zog die Kapuze über seine Mütze und schnaubte. „Manchmal muss man einfach den Sprung wagen, anstatt ewig zu analysieren.“
Miro nickte, obwohl er wusste, dass Worte allein nicht reichten, um die plötzliche Leichtigkeit zu erlangen, die Jens zu haben schien. Da fiel ihm etwas ins Auge.
Ein roter Schal. Er konnte es nicht genauer erklären, aber es war, als wär dieser Farbtupfer auf der Leinwand des Morgens, der ihn unmittelbar festhielt. Der Schal umrahmte das Gesicht einer Frau, die ein paar Meter weiter ebenfalls auf den Zug wartete. Sie wirkte seltsam entrückt, als wäre der Ort um sie herum unbedeutend.
Der Lautsprecher knackte und kündigte den nächsten Zug an. Der Schnee knirschte unter zutretenden Füßen.
Miro fühlte das Kribbeln in den Fingern. Der rote Schal, die Fremde – irgendetwas an der ganzen Szene ließ ihn nicht los. Es war, als ob er in einen Wachtraum gefallen war.
„Vielleicht ist heute der Tag, um die Routine zu brechen“, flüsterte eine Stimme in ihm.
Der Zug rollte ein, riss heiße Luft mit sich. Eine Welle von Pendlern strömte auf die Türen zu, jeder in Erwartung von einem weiteren Tag im endlosen Kreislauf der Woche.
Miro bewegte sich unter ihnen, spürte das Gewicht der Entscheidung. Doch dann stand er einfach still, während die Menschen an ihm vorbeiströmten. Jens bemerkte es, drehte sich um und rief: „Miro, kommst du?“
Er schüttelte den Kopf, beinahe unmerklich. „Ich glaube… ich verpasse diesen.“
Jens sah ihn unverständlich an, dann zuckte er mit den Schultern. Der Zug fuhr ab, ließ den Bahnsteig hinter sich. Miro war nun allein, abgesehen von der Frau mit dem roten Schal, die ihn mit einem vagen Interesse beobachtete.
„Ein ungewöhnlicher Morgen für Abwechslung“, sagte sie, nachdem die Geräusche des Zuges in der Ferne verklungen waren.
„Ja“, entgegnete Miro, seine Stimme unsicher wie die nun mit jedem Moment wachsende Gewissheit, dass dieser Augenblick etwas bedeutete.
Seine Hände steckten tief in den Taschen seines dicken Mantels, als ob er den bevorstehenden Dialog erlügen könnte, sollte er sie herausnehmen. „Ich habe das Gefühl, dass Veränderungen manchmal so beginnen – plötzlich und ohne Vorwarnung.“
„Vielleicht sind es genau diese Momente, an denen sich das Leben entscheidet“, sagte die Frau und lächelte unter ihrem Schal. „Ich heiße Lena, übrigens.“
„Miro“, antwortete er, ein Hauch von Nervosität in seiner Stimme.
Ein überraschendes Gespräch entspann sich zwischen den beiden, allmählich erwärmend wie der helle Schein der aufgehenden Sonne. Worte flossen leicht, Zeit verlor sich im Dazwischen der Fragen und Geschichten, die sie einander erzählten.
Ein neuer Zug kündigte sich an, ratterte in die Haltestelle, riss sie aus ihrer privaten Blase der Momente. Lena blickte hinüber zu Miro und ein Lächeln verblieb in den Augenwinkeln.
Manchmal waren es die vergifteten Abwägungen, die wie Schwebefäden einer komplizierten Lampion-Falle bereit waren, die flüchtigen Glücksmomente zu unterdrücken.
„Manchmal muss man doch den Sprung wagen“, wiederholte sie, was Jens vorhin gesagt hatte, fast so, als hätte sie genau gewusst, was in ihm vorging. Sie betrat den Zug, winkte ihm, während er dastand und diesmal wirklich lächelte.
Miro sah ihr nach, fühlte, wie eine warme Klarheit sich seinen Weg durch die winterliche Kälte zu seinem Herzen bahnte. Der Schal, wie ein roter Faden, nahm die alte Dringlichkeit, und in ihm wuchs der ein tiefes Verständnis für die Zweige, die Weichen des Lebens.
Er wandte sich um und machte sich auf den Weg zurück durch den frischen Schnee, mit einem Gefühl, das scheinbar ganz neu und doch uralt vertraut war. Spontane Entscheidungen, erkannte er, waren weniger die Mutprobe, sondern vielmehr der Beginn unerwarteter Veränderungen im Takt des Lebens selbst.
Der Tag, an dem er den Zug verpasste, wurde zum Ursprung einer neuen Reise. Manchmal, dachte Miro, bahnte sich der Erfolg seinen Weg, wenn man mutig genug ist, stehen zu bleiben.




