Die Uhrmacherin des ersten Schnees
Ysra, die Uhrmacherin aus dem verschneiten Dorf, war bekannt für die speziellen Uhren, die sie fertigte. In einer Welt, wo Uhren längst von Digitalanzeigen abgelöst wurden, hielt ihre Werkstatt mit alten Pendeluhren und tickenden Taschenuhren eine gewisse Magie fest, die viele anzog. Gerade zu dieser Jahreszeit, wenn der erste Schnee leise auf die Erde sank und alles in ein weißes Schweigen hüllte, schien ihre kleine Werkstatt besonders belebt zu sein.
Ysra, eine Frau mit flinkem Verstand und sanften Augen, begutachtete eine alte Standuhr, deren Pendel seufzend in Bewegung war. Der Schnee hatte sich schon hoch vor der Eingangstür gestapelt, und ihre Gedanken trugen den Rhythmus der Zeit durch ihre Erinnerungen, die so klar wie der Klang der Glocken in ihren Uhrenhallten. Plötzlich unterbrach das verschneite Surren der Türklingel die Stille.
Mara, eine junge Frau mit einem von der Kälte geröteten Gesicht, trat ein, zog sich die Handschuhe aus und schüttelte den Schnee aus ihrem langen, dunklen Haar. “Guten Morgen,” sagte sie mit einem unsicheren Lächeln.
Ysra nickte und legte ihre Werkzeuge beiseite. “Was kann ich für dich tun, Mara?” fragte sie und deutete auf eine Reihe kleiner Stühle neben einem alten Tisch mit verkratzter Oberfläche.
Mara setzte sich zögerlich. “Ich… ich möchte eine Uhr reparieren lassen”, begann sie schüchtern und zog eine antike Taschenuhr aus ihrer Manteltasche hervor. “Sie gehörte meiner Großmutter. Es ist das Einzige, was ich von ihr habe, und sie funktioniert nicht mehr.”
Ysra nahm die Uhr und öffnete mit geübtem Griff den Deckel. Der Mechanismus war der alte Typ, auf den sie sich spezialisiert hatte: perfekte Zahnräder, die den Tanz der Zeit in geduldiger Präzision aufrecht erhielten. “Manchmal verlieren sich die kleinen Verbindungen im Inneren”, sagte sie, ohne von der Uhr aufzusehen. “Aber keine Sorge. Ich kann es reparieren.”
Der Wind fegte heulend um das Haus und ließ die Fensterscheiben erzittern. Ysra spürte, dass das, was Mara herführte, mehr als nur eine kaputte Uhr war. Die junge Frau sah sie an, ihre Augen voller stummer Bitten und unausgesprochener Geschichten.
“Es gibt Dinge, die wir nicht ändern können, wie viel Zeit wir auch haben”, bemerkte Ysra leise, als hätte sie die Gedanken herausgehört, die Mara unausgesprochen ließ. “Aber manchmal geben solche Uhren den Menschen den Glauben zurück, dass die Zeit selbst manchmal eine zweite Chance gewährt.”
Mara sah Ysra an, als würde sie nach etwas Unfassbarem greifen. “Was…was meinen Sie damit?”
Bevor Ysra antworten konnte, wurde die Tür erneut geöffnet, und der alte Holm trat herein, begleitet vom kalten Hauch des Schnees. Sein Gesicht war eine Landkarte aus Falten, jede Linie erzählte von Jahrzehnten gelebten Lebens. Er kam regelmäßig, manchmal um einfach in der Werkstatt zu sitzen, einen Tee zu trinken und die Zeit wortlos in sich aufzusaugen.
“Setz dich ans Feuer, Holm. Der Schnee ist heute besonders erbarmungslos,” riet Ysra.
Holm ließ sich schwerfällig in einen der Sessel fallen und lächelte Mara freundlich zu. “Ysra erzählt Ihnen sicher von ihren magischen Uhren,” sagte er mit einem wissenden Blick.
Mara war überrascht von dem Tonfall. “Magische Uhren…?”
Ysra lächelte sanft, wie jemand, der ein wohlgehütetes Geheimnis teilt. “Magie ist vielleicht nicht das richtige Wort. Aber manchmal, wenn die Uhr genau richtig tickt und man den Ton genau hört, schwört man, man könne die Jahre zurückreisen. Vielleicht nicht mit dem Körper, aber mit dem Herzen.”
Mara lauschte den Worten, während sie die Uhr in Ysras Händen betrachtete. Alles an diesem Ort schien vor Geschichten zu flüstern, die nur auf eine Gelegenheit warteten, wieder erzählt zu werden.
“Ich habe es erlebt, weißt du,” begann Holm nach einem langen Schluck Tee. “Eines Nachts, als der Schnee wütete und ich hier Rast machte, konnte ich in einer von Ysras Uhren etwas finden… Etwas, das mir eine längst verloren geglaubte Erinnerung zurückgab. Ich glaube, die Zeit ist manchmal barmherziger als wir denken.”
Ysra nickte und begann die Uhr zu bearbeiten, ihre Finger bewegten sich geschickt über das Zifferblatt. Sie sprach in einer meditativen Ruhe, die den Raum erfüllte, während Mara und Holm zusahen, jede mit ihren eigenen Gedanken und Erinnerungen. Der Klang des geschmeidigen Tickens füllte die Werkstatt und schien den kalten Wind zu verdrängen, der draußen um das Haus tobte.
“Wenn es dunkel wird und wir uns unseren Ängsten und Hoffnungen stellen müssen, ist die Zeit all das, was wir brauchen”, sagte Ysra und legte die reparierte Uhr vor Mara ab. “Hier, nimm sie. Und vergiss nicht, dass du immer die Wahl hast, wie du die Zeit nutzt.”
Vielleicht war es die ehrliche Wärme in Ysras Stimme oder der tröstliche Klang der reparierten Uhr, der Mara ein Gefühl von Frieden vermittelte. Sie hielt die Uhr gegen ihre Brust und spürte den regelmässigen Herzschlag des alten Mechanismus.
Holm erhob sich und sah aus dem Fenster, wo der Schnee weiter fiel. “Es schneit”, sagte er leise, mehr zu sich selbst als zu den anderen. “Vielleicht wird es eine weiße Weihnacht.”
Mara trat ebenfalls an das Fenster und betrachtete den wirbelnden Schnee, der die Welt draußen in eine stille, friedliche Umarmung zu wickeln schien. Sie dachte an ihre Großmutter und an all die Erinnerungen an Weihnachten, die wie verschneite Landstriche in ihrem Gedächtnis verblasst waren. Doch jetzt, mit jeder vergehenden Minute in dieser warmen Werkstatt, fühlte sie, wie diese Erinnerungen zurückkehrten, als hätten die Uhren selbst sie zurückgeschenkt.
Ysra beobachtete sie beide aus der Ferne und spürte ein tiefes Gefühl der Erfüllung. Denn in ihrem kleinen Reich der tickenden Uhren wurde die Zeit nicht nur gemessen, sondern erlebt—mit allen Chancen und Möglichkeiten, die das Leben bot. Und während sie die Türen zur Werkstatt verschloss, wusste sie, dass die Zeit an diesem Tag nicht nur vergangen war, sondern weiterhin reifen würde, in den Köpfen und Herzen von Mara und Holm.
Die Uhren würden weiter ticken, aber es war der erste Schnee, der wie ein Versprechen blieb.




