Die Lichterkette im Verhörraum
Es war ein frostiger Winterabend, und die Straßen waren in das schwache, diffuse Licht der spärlich verteilten Laternen getaucht. Im zweiten Stock des Polizeireviers saß Kommissarin Jana Keller in einem kargen Verhörraum. Ein kleiner Tisch, vier Stühle und eine einzige Lichterkette, die am Fenster hing, verliehen dem kühlen Raum eine unerwartete Wärme.
Vor ihr saß Marko H., sein Gesicht halb im Schatten, halb im warmen Leuchten der Lichterkette. Die Spannung im Raum war beinahe greifbar, als Jana das Dossier überflog, das ihr Protokollant Timo überreicht hatte. Marko war verdächtig, in einen Einbruch verwickelt zu sein. Doch irgendetwas in seinen Augen, diese verletzliche Härte, ließ Jana zögern.
“Marko, möchten Sie etwas dazu sagen?”, fragte sie mit ruhiger Stimme, während der Stift von Timo leise über das Papier kratzte. Marko sah auf, sein Blick ruhig und doch voller Fragen.
“Was soll ich sagen? Da sind viele Dinge, die man mir anhängen könnte. Ich hab’s nicht getan, aber warum sollte das jemanden interessieren?”
Die Feierlichkeit in seiner Stimme irritierte sie. Jana lehnte sich zurück, fühlte die kühle Lehne des Stuhls durch ihre Uniform.
“Sie wissen, warum Sie hier sind, Marko. Die Beweise…”
“Beweise”, unterbrach er sie und schnaubte. “Was sind Beweise, wenn sie nicht die Wahrheit zeigen?”
Der Wind draußen heulte durch die Nacht und ließ die Lichterkette leicht schwanken. Jana spürte ein leichtes Frösteln, als wäre jemand über ihr Grab gegangen. Im Zischen der Heizkörper schien ein unsichtbares Band von Melancholie durch den Raum zu ziehen.
Marko lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. “Wissen Sie, als Kind hab ich an sowas wie Wahrheit geglaubt. Aber dann, eines Tages, wachte ich auf und es war alles weg. Keine Zauber mehr. Nur noch das, was man in Berichte schreiben kann.”
Janas Blick streifte Timo, der unbeeindruckt weiterschrieb. In seinen Notizen waren keine Grauzonen, keine Zwischentöne. Und doch konnte sie nicht umhin, eine leise Verzweiflung hinter Markos Worten zu spüren.
“Wo waren Sie am Abend des 15. Dezember?” Sie stellte die Frage, obwohl sie die Antwort bereits kannte. Gleichsam ein Spiel, ein Ritual.
“Ich war bei meinem Bruder.” Sein Tonfall änderte sich, wurde ruhiger. “Wir feiern jedes Jahr seinen Geburtstag.”
Der Protokollant warf Jana einen skeptischen Blick zu. Ihre Informationen hatten Marko anderswo verortet.
„Der Nachbar hat Sie in der Nähe eines anderen Tatorts gesehen“, sagte Timo, als würde er die Karte auf den Tisch legen, die alles ändern könnte.
Marko lachte auf, es war ein trockenes, heiseres Lachen. „Sehen Sie, das ist das Problem mit den Augenzeugen. Sie sehen, was sie sehen wollen. Genauso wie Sie am Ende nur sehen werden, was Sie berichten möchten.“
Die Kälte des Raumes drang ihr unter die Haut; sie wusste, dass sie keine endgültigen Antworten erwarten sollte, aber sie wollte mehr verstehen, als nur Beweise und Papiere es zuließen.
„Und was ist Ihre Geschichte, Marko?“ Ihre Stimme blieb sanft, forschend und doch nicht anklagend.
Er legte die Hände auf den Tisch, als würde er etwas unsichtbar Festgehaltenes loslassen. „Wissen Sie, jeder glaubt, er ist der Held seiner eigenen Geschichte. Aber was, wenn man feststellen muss, dass man nur eine Randfigur im Leben anderer ist?“
Die Lichterkette flackerte kurz, bevor sie wieder ruhig erstrahlte. Jana hielt kurz inne, fühlte das Gewicht eines Lebens, das jenseits der Formulare und Berichte lag, etwas Eigensinniges, Lebendiges.
„Wahrheit ist immer eine Frage der Perspektive. Aber wir sollten sie nicht gänzlich aufgeben. Sagen Sie mir: Was wollen Sie wirklich von diesem Raum?“, fragte Jana, und in der plötzlichen Stille des Raumes schien es, als hielte die Welt den Atem an.
Marko schloss die Augen, und Jana wartete geduldig auf eine Antwort. Das Echo seiner Gedanken hallte unhörbar zwischen den Wänden wider.
In den Augen von Marko lag ein Hauch eines neuen Beginns, als er die Augen wieder öffnete. „Vielleicht will ich einfach nur, dass die Lichter kurz an mir dranbleiben, bevor sie woandershin schweifen.“
Die Uhr an der Wand tickte, und in dieser kleinen, gewichtigen Pause entfaltete sich ein Moment der Echtheit, ein winziger Einblick in die Tiefe menschlicher Verletzlichkeit.
Jana nickte, langsam, deutlich. „Wir alle wollen, dass die Lichter uns sehen, Marko. Aber manchmal sehen wir sie nicht einmal selbst.“
Schweigend sammelte Marko seine Gedanken, und Jana spürte das subtile Band des Verstehens, das sich zwischen ihnen spannte.
Als sie das Verhör beendete, drang das ferne Echo eines Weihnachtsliedes durch die Korridore des Polizeireviers, untermalt vom gedämpften Surren der Geräte. Weihnachten war nah, aber auch die Erkenntnis, dass niemand nur das war, was auf einem Blatt beschrieben steht.




