Die Stille im verschneiten Reihenhaus
Es war Heiligabend, und Alina saß still an ihrem Küchentisch, den Blick durch das Fenster auf die verschneite Straße gerichtet. Die Welt draußen war in ein weißes Tuch eingehüllt, gedämpfte Geräusche und das Aufblitzen von Lichterketten erfüllten die Nacht mit einer fast unwirklichen Stille.
Die Nachbarschaft war ihr vertraut, die Häuser mit den gleichen Fassaden, die Ecken der Vorgärten mit Lichterketten und Leuchtfiguren geschmückt. Doch an diesem Abend war da ein Haus, das ihre Aufmerksamkeit fesselte. Es war das Haus gegenüber, wo das Ehepaar wohnt, das sie kaum kannte.
Die Stille war seltsam. Kein Licht schimmerte hinter den Fenstern, während aus fast allen anderen Häusern ein warmes, goldenes Leuchten drang. Alina spürte ein Unbehagen, wie ein Kratzen am Rand ihres Bewusstseins. Was war es, das sie an diesem Bild störte?
Ein schrilles Sirenengeräusch durchschnitt die Ruhe, und Blaulichter flackerten auf dem Schnee. Alina trat näher ans Fenster, als ein Polizeiwagen vor dem Haus ihres Nachbarn zum Stehen kam. Zwei Kriminalbeamte, darunter Vogt, den sie flüchtig von der Zeitung her kannte, stiegen aus und sprachen miteinander, bevor sie ins Haus traten.
Alinas Handflächen wurden feucht, ihr Herz schlug ein wenig schneller. Was war dort passiert? War es etwas, das man hätte ahnen können?
Ein Nachbar vom Haus weiter die Straße hinunter, ein älterer Herr, trat zu ihr. „Haben Sie etwas gehört?“, fragte er, seine Stimme ein raues Flüstern, als könne das Wissen verhexen, wenn man es laut aussprach.
Alina schüttelte den Kopf, obwohl sie sich nicht sicher war, ob dies die Wahrheit war. Hatte sie wirklich die nächtlichen Geräusche ignoriert, das vielleicht leise, flehentliche Rufen, das jetzt in ihrem Gedächtnis seine Schatten warf? „Nein, nichts gehört“, antwortete sie. Im Mund lag ein bitterer Geschmack von Zurückhaltung und Eigenverantwortung.
Die Stunden verstrichen, während die Beamten ihrer Arbeit nachgingen, auf den Gesichtern lag ein Ausdruck strenger Konzentration, dann stumme Erkenntnis. Alina beobachtete das Geschehen aus ihrem Versteck hinter den Gardinen, der Abend war dunkler geworden, die Blaulichter blendeten ihre Augen.
„Es ist seltsam, nicht wahr?“, sagte der ältere Herr erneut zu ihr, nun selbst an ihrem Küchentisch Platz nehmend. „So still. Man denkt immer, man würde etwas bemerken, und dann… nichts.“
„Vielleicht liegt es daran, dass man nicht genau hinschaut, selbst wenn es direkt vor einem geschieht“, erwiderte Alina leise und kämpfte mit dem Kloß in ihrem Hals.
Vogt trat schließlich aus dem Haus hinaus, die Straßenlaternen warfen lange Schatten über den frischen Schnee. Er sah zu Alina hinüber, ein kurzes, nachdenkliches Nicken, bevor er sich abwandte. Damit war alles gesagt und nichts gesagt. Der Seufzer der Veränderung ging durch die stille Straße, ergreifend in seiner Unaufdringlichkeit.
Als die Nacht fortschritt und die Polizei sich zurückzog, blieb Alina am Fenster stehen, die Fassade des gegenüberliegenden Hauses in ihr Gedächtnis eingraviert. Dort standen die müden Fenster, und das Geisterbild des Paares erschien in ihrer Vorstellung, als hätte ein unsichtbarer Maler ihr Abbild dort hinterlassen.
Nun, wo die stille Heiligabendnacht in die Dunkelheit der Erkenntnis schritt, fragte sich Alina mit einer schmerzlichen Offenheit, welchen Teil der Welt sie bereit war, zu übersehen und welchen Teil sie statt dessen mit ihrem Mitleid noch heilen konnte.




