Der Anruf aus dem Schneesturm
Der Wind pfiff um das Gebäude der Notrufzentrale. Die Fenster waren der Kälte ausgesetzt, doch immer wieder leuchteten die Monitore auf, tauchten den schummrigen Raum in ein lebendiges Blau. Kira, die Notruf-Disponentin mit den tiefen braunen Augen, starrte auf die Bildschirme vor sich. Die winterliche Stille draußen stand in krassem Gegensatz zu dem leisen Summen der Technik um sie herum.
Die Weihnachtsnacht war sonst ruhig, aber der Schneesturm, der über die Stadt hereinbrach, beunruhigte sie. Ihre Finger strichen über die Tasten, als ein Licht auf ihr Display tanzte. Ein Anruf ging ein. Kira seufzte leise, bevor sie den Hörer abnahm.
“Hier ist die Notrufzentrale, mein Name ist Kira, wie kann ich Ihnen helfen?” Ihre Stimme war ruhig, professionell.
Am anderen Ende der Leitung vernahm sie ein tiefes, stockendes Atmen. Eine sanfte Frauenstimme flüsterte: “Ich glaube, ich brauche Hilfe, aber… ich weiß nicht, ob Sie mir helfen können.”
“Bitte, versuchen Sie es zu erklären. Wo befinden Sie sich? Was ist passiert?” fragte Kira, während sie Notizen machte. Draußen peitschte der Wind die Schneeflocken vor den Fenstern entlang.
Die Frau zögerte, und für einen Moment hielt Kira den Atem an. “Ich bin irgendwo… festgefahren. Mein Auto, der Schnee… ich sehe nichts mehr. Und ich fühl mich so allein.”
Kira spürte den Ernst der Lage. Die Kälte draußen konnte in so einer Nacht tödlich sein. “Bitte bleiben Sie am Apparat, ich schicke Ihnen sofort jemanden. Haben Sie irgendwelche Orientierungspunkte gesehen?”
Der Anrufer zögerte erneut. “Da war ein Schild, glaub ich. Aber es ist alles so verschwommen. Der Sturm hat alles zugeschneit.”
Kira blickte zu Jens, ihrem Schichtleiter, hinüber. Er war ein älterer Mann, der durch seine langjährige Erfahrung Ruhe und Autorität ausstrahlte. Heute wirkte er allerdings müde, seine Augenringe verrieten die bereits lange Wachschicht.
“Was meinst du, Jens? Irgendeine Idee, wo sie sein könnte?” fragte Kira leise, die Hand über das Mikrofon haltend.
“Das ist nicht einfach… bei dem Wetter…” Jens runzelte die Stirn, während er überlegte. “Sollen wir die Polizei losschicken?”
Kira nickte, bevor sie wieder ins Telefon sprach: “Hören Sie, wir schicken Hilfe. Bleiben Sie bitte ruhig und beschreiben Sie alles, was Ihnen in den Sinn kommt.”
Dann, in einem plötzlichen Impuls der Verzweiflung, flüsterte die Frau: “Bitte, beeilen Sie sich. Ich habe Angst. Er kommt zurück.”
Die Dringlichkeit in der Stimme der Frau ließ Kira blass werden. Für einen Moment war alles andere nebensächlich. Die Bildschirme flackerten, und der Raum füllte sich mit dem Summen der elektronischen Geräte, aber für Kira existierte gerade nur dieser Anruf.
Der nächste Augenblick fühlte sich wie eine Ewigkeit an. “Wer? Wer kommt zurück?” Kira hielt den Atem an, während sie wartete. Das Knacken der Leitung und das entfernte Heulen des Sturms schufen eine eigentümliche Spannung.
Doch die Verbindung brach ab. Kira starrte auf das blinkende Lämpchen, das verstummt war. Sie schaute sich in der Zentrale um; die Monitore zeigten weiße, vom Sturm verzerrte Kamerabilder. “Jens, die Verbindung ist weg!”
Er nickte knapp. “Wir müssen noch versuchen, ihre Telefonnummer zurückzuverfolgen. Jetzt zählt jede Minute.”
Plötzlich wurde die eigentümliche Stille der Zentrale von einem neuen Anruf unterbrochen. Ein verschwommenes Bild auf einem der Monitore wurde durch das grelle Licht eines Polizeiwagens erhellt, der jetzt die ruhige und isolierte Szenerie veränderte.
Kira fühlte den Druck auf ihrer Brust, während Jens die Verfolgung der Spur einleitete, um die Herkunft des Anrufs herauszufinden. Ihre Gedanken überschlugen sich; die Verantwortung lastete schwer auf ihr. Der Schnee draußen wirbelte in einem Chaos – genau wie in ihrem Inneren.
Weitere Minuten vergingen, und das Dröhnen ihres eigenen Herzschlags war alles, was sie hörte. “Da!” rief Jens plötzlich und zeigte auf den Bildschirm. Eine Spur, verblasst, aber sichtbar. “Sie ist nahe der alten Landstraße im Norden,” erklärte er und leitete alles Notwendige in die Wege.
Die Minuten zogen sich in die Länge, bis schließlich ein erneuter Anruf einging. “Kira?” Die Stimme am anderen Ende war angespannt. “Das Fahrzeug liegt in einem Graben. Wir haben die Frau gefunden, sie ist erschöpft, aber am Leben.”
Erleichterung durchflutete Kira, während sie die Mitteilung aufnahm. In dieser Weihnachtsnacht war ein Leben gerettet worden. Die Verantwortung eines jeden Einzelnen in diesem Raum hatte dazu beigetragen.
Später, als die Notrufzentrale wieder zur bekannten Routine überging und der Sturm sich legte, ließ Kira ihren Gedanken freien Lauf und fragte sich, wie diese unbekannte Frau jetzt wohl in Sicherheit war. Manchmal, dachte sie, genügt es, die richtige Frage zu stellen, um zu helfen.



