Die Glocke im Eiswald
Im stillen Herzen des Eiswaldes, wo der Schnee glitzernd auf den Zweigen der Tannen lag und ein vereister Bach leise unter dem Mondlicht floss, lebte die kleine Fee Miriel. Sie war bekannt für ihren schimmernden grünen Umhang, der leise Raschelgeräusche machte, als sie durch den Wald flog. Jede Winterweihnacht wartete sie ungeduldig auf das Läuten der alten Kapellenglocke im weiten Wald.
Eines Nachts, als die Schneeflocken tanzten und sich die Nacht geheimnisvoll über den Waldboden legte, fühlte Miriel ein Kribbeln in der Luft. Sie wusste, dass diese Nacht besonders sein würde. Vorsichtig wie ein scheues Reh trat der junge Hirte Tamo aus der Dunkelheit. Er trug einen warmen Mantel aus Schafwolle, den seine Großmutter ihm geschenkt hatte. Sein Gesicht war von mildem Lächeln und Vorsicht geprägt.
„Glaubst du, die Glocke wird heute Nacht läuten?“, fragte Tamo die kleine Fee und schaute in den dunklen Himmel. Sein Atem bildete kleine Wölkchen in der kalten Luft.
„Wir werden es bald erfahren,“ antwortete Miriel und schlang ihren Umhang dichter um sich. „Aber wir sollten uns beeilen, bevor der Fuchs Sil den Ort erreicht.“
Kaum hatte sie es ausgesprochen, huschte ein flinkes Etwas durch den Schnee. Es war der Schneefuchs Sil, der immer auf der Suche nach neuen Abenteuern und einer Prise Magie war. Sein Fell glänzte wie frisch gefallener Schnee und seine Augen funkelten vor Neugier.
Die drei Freunde, Miriel, Tamo und Sil, machten sich auf den Weg zum versteckten Ort, wo die alte Kapelle stand. Der Pfad dorthin war von hohen, stillen Tannen gesäumt, deren Äste unter der Last des Schnees schwermütig gen Boden strebten. Der Wind sprach leise in einem Flüstern, als waberte ein ferner, melodischer Klang durch die Nacht.
Als sie die Kapelle erreichten, die halb von frostigen Eiszapfen verhangen und von glitzerndem Schnee bedeckt war, spürten sie, wie die Luft um sie herum vor Spannung sirrte. In der Mitte hing die uralte Glocke, die nur in der Weihnachtsnacht ihren verheißungsvollen Klang von sich gab.
„Wir müssen die Glocke zum Läuten bringen“, erklärte Miriel entschlossen. „Die Legende besagt, dass ihr Klang den Herzen Licht bringt und den Winter verzaubert.“
„Aber… die Glocke ist hoch oben und schwer,“ bemerkte Tamo leise, seine Blicke suchten den Weg nach oben.
„Gemeinsam schaffen wir es,“ piepste der Schneefuchs Sil, der schon stets zu einer Herausforderung bereit war. Seine Schnauze zitterte vor Aufregung.
Tamo und Miriel verspürten einen Funken Mut. Sie kletterten entschlossen die glatte Wand der Kapelle hinauf um die Glocke zu erreichen. Mit dem Schnee, der in ihren Haaren schmelzte, und dem vereisten Holz, das unter ihren Händen knarrte, spürten sie das Herz des Winterwaldes in ihrer Brust pochen.
Der Wind hörte auf zu wehen, und für einen Augenblick flog ein Sternregen über den klaren Nachthimmel. Plötzlich fühlte Tamo etwas Magisches. Er lächelte schwach und rief:
„Wir können es schaffen, wenn wir gemeinsam die Glocke berühren!“
Man spürte, wie die drei Freunde auf dem Dach der Kapelle mit vereinten Kräften die schwere Glocke in Bewegung setzten. Langsam, wie aus tiefsten Schlaf erwacht, schwang die Glocke und ließ einen tiefen, melodischen Klang durch den Wald hallen. Es war, als träte der Klang direkt in die Herzen der Waldbewohner.
Die Tannen neigten sich leichter, der Frost schimmerte in Farben, die den Augen der drei Wanderer unbekannt waren. Eine stille Freude durchzog den Wald, und es schien, als lächelte alles um sie herum.
Der Moment dauerte lediglich eine Herzenslänge, aber das Gefühl wärmte die lange Winternacht. Als die Freunde sicher zur Erde zurückkehrten, fanden sie die Welt um sich herum verändert, als sei es eine spielerische Erinnerung daran, dass Glück und Mut oft Hand in Hand gehen.
„Wer hätte gedacht, dass unsere Herzen so stark sind,“ flüsterte Miriel, während sie ihre Flügel ausbreitete und ins Dunkel der Nacht tauchte.
„Wir wussten es immer,“ zog Tamo mit einem zufriedenen Lächeln seinen Mantel enger und machte sich mit Sil, dessen Schnauze in freudiger Erwartung kribbelte, auf den Heimweg.
Als sich ihre Spuren im Schnee bald verloren, hatte der Winterwald endlich seine Ruhe gefunden. Der Klang der Glocke verblieb leise im Ohr – und die Nacht hüllte die Welt sanft wie einen warmen Mantel ein.




