Auszeit im Treppenhaus
Der Herbstregen trommelte gegen die hohen, mit alternder Farbe überzogenen Fensterrahmen des Treppenhauses. Mareike lehnte sich an das kühle Geländer, atmete tief ein und ließ den Blick über die runden Konturen der Wassertropfen schweifen.
Im dritten Stock des Altbaus, auf dem kleinen Fensterpodest, hatte sie einen ihrer liebsten, geheimen Rückzugsorte entdeckt. Von hier aus konnte sie dem normalen Lauf der Dinge entfliehen, auch wenn es nur für ein paar Minuten war.
Sie setzte sich auf die schmale Fensterbank, zog die Knie an die Brust und bettete ihren Kopf an die Fensterscheibe. Von hier aus sah sie hinaus auf die von Bäumen gesäumte Straße, deren Blätter sich golden und braun wie ein Teppich über das Pflaster ausbreiteten.
Eine innere Ruhe breitete sich aus, während der Regen unaufhörlich gegen das Fenster prasselte. Mareike schloss die Augen, verstärkte den Druck gegen die Fensterscheibe und spürte die kühle Feuchtigkeit, die ihre Haut streifte.
“Ich brauche das”, dachte sie, als sie eins mit dem rhythmischen Klang des Regens wurde. Die äußeren Sorgen – der Lärm der Stadt, das andauernde Starren auf Bildschirme, die nie endenden To-Do-Listen – schienen in diesem Moment unbedeutend.
Interessanterweise fühlte sie sich hier weniger allein als in ihrem eigenen Apartment. Dieses kleine Podest war nie wirklich dazu gedacht, jemanden länger zu beherbergen, aber Mareike hatte es zu ihrer kleinen Ewigkeit gemacht.
In der Ferne hörte sie das Murmeln anderer Bewohner, die aus ihren Wohnungen aufbrachen, zum Aufzug hasteten oder das leise hallende Klicken der sich öffnenden und schließenden Türen. Doch nichts davon störte den Klang des Regens, der durch das Treppenhaus sickerte und in den Wänden widerhallte.
Für einen flüchtigen Moment stellte sie sich vor, dass es nicht nur das Wetter war, das sie vom Rest der urbanen Verpflichtungen trennte, sondern eine Art sanfter Zeitkapsel, die sie hier im Treppenhaus gefunden hatte.
Ein leises Lächeln spielte um ihre Lippen. Sie wusste, dass sie jederzeit zurück in ihre Wohnung gehen konnte, doch es war hier, im Treppenhaus, wo sie ihre Mitte fand – die Stille, die Atmung, den Rhythmus.
Der Regen ließ langsam nach, und mit ihm schlich sich ein weicher Hauch von Sonnenlicht hinter den Wolken hervor. Es brach wie schüchterne Hoffnung durch die schweren Wolken, ein bunt schimmerndes Kaleidoskop, das die Wassertropfen in zarten Regenbogenfarben aufleuchten ließ.
Mareike öffnete die Augen und betrachtete diesen Regen-Sonnentanz mit Bewunderung. Sie seufzte leise, erhob sich und strich sich mit der Hand übers Gesicht, als ob sie die Ruhe des Momentes in sich konservieren wollte.
Mit einem letzten, befreienden Atemzug ließ sie das Treppengeländer hinter sich und machte sich auf den Weg zurück in ihre Wohnung. Die Leichtigkeit des Augenblicks begleitete sie, still aber beständig, wie warme Sonnenstrahlen, die sich durch das Fenster drängten.
Und obwohl es bloß wenige Minuten waren, würde diese Auszeit im Treppenhaus ihren ganzen Tag retten. Vorübergehend losgelöst von den Dränglichkeiten ihres Lebens, hatte Mareike ihre Pause gefunden, ihren Atem unter dem Regen der Stille.




