Briefe, die Herzen finden
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Der Regen trommelte leise gegen die große Fensterscheibe der kleinen Buchhandlung, die Ella seit ihrer Kindheit liebte. Die Holzregale, bis zur Decke gefüllt, verströmten den warmen Duft alter Seiten und ein Hauch von herbstlicher Melancholie. Ella mochte diesen Geruch – es war, als würde die Zeit hier langsamer vergehen. Seit kurzem arbeitete sie in dieser Buchhandlung, die Frau Sommer mit ihrer Leidenschaft für das Gedruckte führte.
Frau Sommer, eine geduldige Dame von unbestimmtem Alter, schob ein neues Buch in eines der Regale, während Ella am Tresen stand und die alten Briefe sortierte, die im Keller gefunden worden waren. ‘Schaue dir die Kunst dieser alten Hand, die auf dem Papier tanzt’, hatte Frau Sommer gesagt, lächelnd hinzufügend, dass jeder Brief eine Geschichte für sich sei.
Einer der Briefe fiel auf. Das kräftige Papier sprach von Zeiten, in denen Worte noch von Bedeutung waren. Ein feines Parfum drang aus dem Umschlag, und als Ella widerstehen konnte, öffnete sie ihn. Liebe Worte, von verlorener Sehnsucht sprechend, zogen sie in ihren Bann. Sie fühlte sich einem Leben nahe, das längst vergangen, aber noch nicht vergessen war.
In den nächsten Tagen vollzog Ella ein Ritual; immer zur gleichen Zeit setzte sie sich ans Fenster, den Regen lauschend, die Briefe lesend. Es waren Briefe zwischen zwei Menschen, deren Namen sie nicht kannte, die jedoch eine unerklärliche Nähe in ihr weckten.
Dann, als der Regen wieder einmal sanft auf das Glas klopfte, kam Mika in die Buchhandlung. Er war ein junger Mann, dessen Interesse an alten Büchern ihn in diese Welt zog. Seine klaren, fragenden Augen trafen Ella, und für einen Moment schien die Zeit stillzustehen.
Er sprach mit einer leiseren Stimme, als erwartet. ‘Diese Bücher scheinen auf jemanden zu warten, nicht wahr?’ fragte er, während er ein verstaubtes Exemplar aus dem Regal zog.
Ella lächelte, ihre Finger auf den Briefen ruhend. ‘Manchmal sind es die vergessenen Geschichten, die am meisten berühren’, antwortete sie, mehr zu sich selbst als zu ihm sprichend.
Über die folgenden Wochen entwickelte sich zwischen ihnen eine stille Vertrautheit. Mika hatte die Eigenart, mit Büchern, die er fand, als wären es alte Freunde, auf dem Tisch gegenüber von Ella zu sitzen, während sie las und darüber nachdachte, was in den Herzen jener entrückten Schreiber vorgegangen sein musste.
Es war eines regnerischen Nachmittags, als Mika sie fragte, worüber die Briefe in ihrer Hand sprachen. Ella zögerte, dann reichte sie ihm einen der Umschläge. Ohne ein weiteres Wort las er, während das sanfte Trommeln des Regens auf das Dach eingebettet war.
Als er den letzten Absatz erreichte, hob er den Blick, eine Mischung aus Nachdenklichkeit und Wehmut in seinen Augen. ‘Jemand suchte nach der Wahrheit im Herzen eines anderen’, sagte er leise.
Diese Worte trafen Ella tief. Es war es genau solch eine Wahrheit, die sie empfand, wenn sie ihn ansah. So kamen die Briefe, die einst ein Geheimnis waren, Stück für Stück zusammen und wurden ihre gemeinsame Geschichte.
Der Herbst zog weiter, brachte kühlere Winde und buntere Blätter. Doch die Wärme zwischen Ella und Mika schwang in jedem ihrer Blicke mit. Sie sprachen wenig; sie lauschten der Stille, die sich wie ein alter Mantel um sie legte.
Es war an einem Spätnachmittag, als Frau Sommer zu ihnen trat. ‘Habt ihr herausgefunden, was das Leben wollte, als es diese Zeilen schrieb?’ fragte sie, und ihre Stimme klang wie das Rascheln der Blätter im Wind.
Ella und Mika schauten einander an, dann auf die feinen Zeilen, die auf gelblich gewordenem Papier tanzten. ‘Vielleicht’, begann Ella, ‘haben die Worte nicht nur einen Empfänger gefunden.’, fügte sie hinzu und schaute verschmitzt zu Mika.
Frau Sommer lächelte weise, wie jemand, der die Geschichten kennt, die Leben weben. Dann ließ sie Ella und Mika mit den Briefen, die nun mehr als nur Worte auf Papier waren, verbunden.
Der Regen hörte auf, das Sonnenlicht brach durch die Wolken und tauchte die Buchhandlung in goldenes Licht. Ella und Mika blieben noch, in dem Wissen, dass die Geschichte weitergehen würde, irgendwo zwischen den Wänden dieser kleinen Buchhandlung und den Zeilen der Briefe, die weiterhin Herzen finden würden.




