Briefe in der Straßenbahn
Die Straßenbahn war an jenem späten Herbstnachmittag nur spärlich besetzt. Die Scheiben waren von feinen Regentropfen überzogen, die sich langsam zu kleinen Bächen zusammenschlossen. Levi saß auf seinem üblichen Platz, den großen dunklen Mantel bis zum Kinn zugeknöpft. In seinen Händen hielt er einen Brief.
Der Brief war nicht für ihn bestimmt. Er hatte ihn zwei Stationen zuvor auf einem Sitz entdeckt, als eine hastige Menschenmenge aus der Bahn stürmte. Er war schlicht, auf grauem Pergament und ohne Absender. Doch die alte, elegante Handschrift, die den Umschlag zierte, zog ihn unweigerlich in ihren Bann.
Während die Tram über die Schienen klackerte, schob Levi den Brief in seine Manteltasche und ließ seinen Blick aus dem Fenster schweifen. Die Bäume draußen standen kahl, wurden nur von vereinzelten gelben Blättern geschmückt, die im Wind flatterten. Die Stadt war in ein dunstiges, goldenes Licht getaucht.
Als die Straßenbahn an der nächsten Haltestelle hielt, stieg Rosa ein. Der Zufall wollte es, dass sie sich direkt neben Levi setzte. Sie war von zarter Statur mit Locken, die ihr Gesicht umrahmten, als wären sie aus den Geschichten vergangener Zeiten entsprungen.
Rosa sah aus dem Augenwinkel, wie Levi den Umschlag in seiner Tasche zurechtrückte, als wäre es sein eigenes. ‘Ist das deiner?’, fragte sie leise, mit einer Stimme, die wie das Blättern alter Buchseiten klang.
Levi zögerte einen Augenblick und entschloss sich schließlich zur Wahrheit. ‘Nein, ich habe ihn hier gefunden.’ Er zog den Brief hervor und legte ihn vorsichtig auf den Platz zwischen ihnen.
Beide betrachteten den Brief, als wäre er ein rätselhaftes Artefakt aus einer anderen Welt. ‘Vielleicht ist es ein Zeichen’, meinte Rosa, während sie dem Umschlag mit ihren Fingerspitzen nachfuhr, ohne ihn zu öffnen.
Neugier war ein stiller Begleiter in Levis Leben. Er überlegte, ob er fragen sollte, warum sie das sagte, doch die Stille zwischen ihnen fühlte sich plötzlich viel zu angenehm an, um sie zu unterbrechen.
Die Straßenbahn setzte sich wieder in Bewegung, das Trommeln des Regens gegen die Fenster war das einzige Geräusch, das den Moment störte. Levi begann einen Brief in seinem Kopf zu formulieren, an eine Person, die er bisher nur aus Gedanken kannte.
Zwei Haltestellen später war es Rosa, die den Bann brach. ‘Möchtest du ihn mit mir lesen?’, fragte sie unvermittelt, während sich ein Lächeln auf ihren Lippen abzeichnete, das Wärme in Levis Herzen brachte.
Es war ein Angebot, dem er nicht widerstehen konnte. Gemeinsam brachen sie den Umschlag auf und zogen das Papier heraus. Was folgte, war ein Brief voller Sehnsucht und unerwiderter Fragen, gerichtet an niemanden und doch an jeden. Worte über verpasste Chancen und feinsinnige Gedankengänge, die beinahe an Poesie grenzten.
Beide lasen sie aufmerksam, ihre Blicke raschelten über die Zeilen, als ob sie die sanfte Melodie einer vergessenen Schallplatte nachspielten. Der Brief endete mit den Worten: ‘Wer dies findet, liest mein Herz.’
Die Realität schien in den Hintergrund zu treten, während Levi und Rosa sich tief in die Augen sahen, als hätten sie gerade das Staffelholz eines unausgesprochenen Geheimnisses weitergereicht. Die Straßenbahn hielt ein letztes Mal, bevor sie den Brief wieder in den Umschlag steckten.
‘Ich glaube, ich weiß nun, was ich zu tun habe’, sagte Levi, als er aufstand, während sich Rosas stopfende Blicke an ihm festkrallten. ‘Vielleicht sollte ich anfangen, meine eigenen Briefe zu schreiben.’
Rosa nickte zustimmend, ein leiser Wind spielte mit ihren Haaren. ‘Wer schreibt, findet’, flüsterte sie, während die Tür der Straßenbahn sich hinter Levi schloss.
Draußen, in der kühlen Herbstluft, versprach der Wind mehr als nur Regen – er flüsterte von neuen Anfängen.




