Das Geheimnis des Frostspiegels
Im verschneiten Hinterhof war alles still, nur das leise Knirschen von Schnee unter den Schuhen von Sara und Noel war zu hören. Ihre Atemwolken stiegen in die kalte, klare Winterluft auf, während sie neugierig zu einem kleinen, vereisten Fenster schlichen. Der Winter hatte alles mit einem glitzernden Schleier überzogen und das Fenster war von funkelnden Eiskristallen bedeckt.
„Siehst du das?“, fragte Noel, während er mit einem Finger auf die frostige Glasfläche deutete. Hinter dem glatten Eis schimmerte ein geheimnisvolles Licht.
„Was könnte das sein?“, flüsterte Sara mit einem Hauch von Aufregung in der Stimme.
Gemeinsam beugten sie sich näher hin, spürten die kühle Luft, die ihre Nasen kitzelte, und sahen genauer hin. In der Mitte des Fensters bildete sich langsam ein Bild, das wie ein Spiegel wirkte, jedoch war es ein Spiegel mit einem Geheimnis.
Sara bemerkte zuerst, dass die Reflexionen nicht die gewöhnlichen zurückwarfen. Statt der Schneehaube auf ihrem Hut oder den bunten Lichtern der Lichterkette, die ihnen Großvater gegeben hatte, zeigten die Bilder im Spiegel Szenen aus Träumen und Wünschen.
„Schau, Noel!“, rief Sara jetzt lauter und deutete auf die Spiegelung.
Noel nickte langsam. „Das ist ja unglaublich!“
Sara sah sich selbst, allerdings nicht als das schüchterne Mädchen, das oft ein wenig unsichtbar wirken wollte. Nein, sie sah sich als mutige Abenteurerin, die durch glitzernde Wälder lief und mit Tieren sprach. Ihre Augen funkelten ebenso wie die Eiskristalle.
Noel hingegen sah sich als Entdecker, der auf einem großen Schiff durch die Weltmeere segelte, stark und furchtlos. Ihm entfuhr ein überraschter Seufzer.
Der Frostspiegel, so nannten sie das mysteriöse Fenster von nun an, zeigte ihnen, wer sie wirklich sein konnten – mehr als nur das, was man auf den ersten Blick erkennen konnte.
Die Lichterkette, die sie nun aufgehängt hatten, strahlte in einem warmen Licht über das Spiegelbild, als wollten sie den Zauber noch ein wenig festhalten.
„Weißt du, Noel“, begann Sara nachdenklich, während sie die leuchtenden Farben beobachtete, die tanzende Schatten auf den Schnee warfen, „vielleicht ist dieser Spiegel gar nicht magisch. Vielleicht zeigt er einfach das, was wir in uns selbst nicht sehen können.“
„Hm“, stimmte Noel zu, während er in die Ferne starrte, „ja, aber weißt du was? Es fühlt sich schön an.“
Die beiden Freunde standen noch eine Weile, verloren in ihren Gedanken, vor dem Frostspiegel, der sie inspiriert hatte, über die Grenzen des Alltags hinauszusehen.
Als der erste Schneeflocken des neuen Schneesturms leise vom Himmel fiel, beschlossen sie nach drinnen zu gehen. „Lass uns morgen wiederkommen“, sagte Noel flüsternd, während sie sich auf den Heimweg machten.
Sara nickte mit einem Lächeln. „Ja, vielleicht zeigt der Spiegel uns ja etwas Neues!“
Zurück im warmen Zuhause, eingeigelt in weiche Decken und das sanfte Glühen der Lichterkette, fühlten sie sich abenteuerlustig, mutig und wunderbar lebendig. Der Abend begann zu Ende zu gehen, während das Licht sanft im Raum pulsierte, und in ihre Herzen sickerte die Gewissheit, dass sie mehr waren als nur ihre Spiegelbilder — sie waren Entdecker ihrer eigenen Geschichten.
Und mit dieser Gedankenwärme schloss sich allmählich die sanfte Tür zum Traumland, während Sara und Noel in den Schlaf sanken, begleitet von der Magie des Frostspiegels, die in ihren Träumen weiterlebte.




