Das Geheimnis im Spiegelsee
Vorlesezeit: ca. 13 Minuten
Der Herbst hatte den Nebelwald in ein brodelndes Meer aus silbrigem Dunst gehüllt. Schwerfällig schwebte der Nebel zwischen den nackten, knorrigen Ästen, ein flüsterndes Versprechen einer verlockenden Unwirklichkeit. Nora stand am Rand des Waldes, wo das Licht des Morgengrauens zaghaft die Nebelschwaden durchbrach, und fragte sich, ob ihre Reise hier beginnen oder enden würde.
Unter all den herbstlichen Farben, die sich nur schemenhaft durch den Nebel abzeichneten, war es der silbrige Glanz eines Sees, der sie rief. Man nannte diesen geheimnisvollen Ort den Spiegelsee, ein magischer Spiegel, der nicht nur das Äußere enthüllte, sondern auch das Innerste jedes Betrachters.
Nora hatte von dem Ort gehört und von den Geschichten, die man sich von der Nebelfrau erzählte, einem Wesen, das angeblich im Nebel lebte und denen erschien, die den Mut hatten, ihrem eigenen Spiegelbild gegenüberzutreten. Doch was sie wirklich suchte, war mehr als ein einfaches Spiegelbild. In ihrer Brust brannte das Verlangen nach einer Erkenntnis, nach einem Teil von sich selbst, der unerreichbar schien.
Als sie tiefer in den Wald schritt, fühlte sie eine Präsenz neben sich. „Du suchst den Spiegelsee“, erklang eine sanfte Stimme, gleichsam dem Wispern des Windes durch die Blätter, die Elyon, der Wächter des Waldes, einhüllte.
Nora nickte, unsicher, ob Worte hier ihren Platz hatten. Elyons Augen schimmerten wie schwelende Kohlen, in denen jahrhundertealte Geheimnisse loderten. „Es gibt immer einen Preis,“ fügte er hinzu, während sie sich gemeinsam auf den verwunschenen Pfad begaben.
Der Nebel schloss sich um sie, machte die Welt gedämpft, ein stilles Flüstern abseits des Lebens im Tageslicht. Jeder Schritt führte sie tiefer in die Melodie des Waldes, ein Rhythmus aus knackenden Zweigen und dem gedämpften Rascheln von fallendem Laub.
Schließlich erreichten sie den Spiegelsee. Eine leichte Brise kräuselte die Oberfläche, doch das Wasser selbst blieb unbewegt – ein perfekter Spiegel, der keinerlei Makel zeigte.
„Schau hinein“, sagte Elyon, während er einen Schritt zurücktrat. Den Blick im Wasser versenkend, bemerkte Nora zunächst nichts Besonderes. Doch als sie sich intensiver jetzt beobachtete, veränderte sich das Bild.
Plötzlich schien es ihr, als hätte sie nie ihr eigenes Spiegelbild gesehen. Stattdessen blickte ihr ein Gesicht entgegen, das vertraut und fremd zugleich war. Es war ihr eigenes, doch aus tiefer liegenden Erinnerungen, aus Bruchstücken vergangener Möglichkeiten, aus Grobskizzen eines Lebens, das sie nie zu führen gewagt hatte.
„Weißt du, wer du bist?“ fragte Elyon, dessen Stimme keinen der geheimnisvollen Schleier der Stille zu durchdringen schien.
Nora wollte antworten, doch die Finger der Erkenntnis griffen schneller nach ihr, als ihre Gedanken formen konnten. „Ich bin die, die zu sein ich vergesse hatte,“ flüsterte sie kaum hörbar.
Da gaben die Nebel eine Gestalt frei. Der Spiegelgeist, lose gewoben aus Schattierungen des Lichts, erhob sich aus der Oberfläche. Mit einem Ausdruck, der weder Gut noch Böse zugeordnet werden konnte, schwebte es auf Nora zu. „Du hast das gefunden, was verborgen lag,“ murmelte es, in einer Stimme, die sich eher wie ein Gefühl als ein Laut anfühlte.
Nora nickte, erstarrt vor Ehrfurcht und Zuversicht. „Bin ich… die Nebelfrau?“ fragte sie schließlich, als würde sie eine Urkunde ihres eigenen Daseins beanspruchen.
Der Geist lächelte, eine Bewegung, die den Nebel auf eine Weise kräuselte, die Frieden mit sich brachte. „Du bist alles, was du siehst und mehr. Das Geheimnis liegt in deinem Blick, nicht in meiner Antwort,“ offenbarte es.
Mit diesen Worten schloss sich der Nebel erneut wie ein behütendes Tuch um Nora, und die Spreu vergangener Zweifel begann sich mit der Erdenschwere des Augenblicks zu vermischen. Sie verstand nun, dass die Welt im Nebel nicht weniger real war als jene im Licht.
Während Nora den Rückweg antrat, spürte sie Eliyons wachsames Auge stets an ihrer Seite, ein stiller Begleiter in der neugefundenen Gewissheit, dass das wahre Geheimnis im Unfassbaren lag – in der Unschärfe dessen, was wir für fest, statisch und endgültig hielten.




