Das leise Ja
Vorlesezeit: ca. 20 Minuten
Der Nebel verschlang den Weg vor Mira, zog sich silbrig und dicht zwischen den Bäumen hindurch, die in der Dämmerung des frühen Morgens wie stille Wächter wirkten. Der Boden unter ihren Füßen fühlte sich feucht und federnd an, als sie langsam den gewundenen Pfad entlangging. Der Frühling hatte den Wald mit einem Hauch von Erwachen erfüllt, ein zartes Grün zeichnete sich an den kahlen Ästen ab, und in der Ferne sang ein Vogel sein vorsichtiges Lied.
Mira’s Gedanken waren wie das Zwitschern der Vögel, unermüdlich, flüchtig und nur selten greifbar. Doch heute, inmitten der dunstigen Ruhe, begann sie ihnen zuzuhören. Mit jedem Schritt schien etwas in ihr aufzubrechen, etwas, das lange Zeit verborgen gelegen hatte. Ein Drängen, ein Flüstern – kaum hörbar, aber unüberhörbar. Ein anderes Ich, ihres Erachtens nach, wartete, dass sie endlich zuhörte. Ihre Finger glitten über die glatte Rinde eines Baumes, und sie hielt inne, lauschte. "Was möchtest du?" fragte sie leise, ohne zu wissen, ob die Frage überhaupt eine Antwort brauchte.
Die Zeit dehnte sich aus, die Stille pulsierte leicht, umhüllte sie, und Mira ahnte, dass darin die Antwort verborgen lag. Nicht in Worten, sondern in einem Gefühl, das ruhig und klar war wie der Morgen um sie herum. Sie erkannte, dass all die Jahre der Zweifel, der stillen Selbstverneinung, sich in diesem Moment lichteten.
"Du darfst Ja sagen," flüsterte der Wind, oder war es ihre eigene Stimme? Eine leise, liebevolle Erlaubnis, die längst überfällig war.
In ihrem Leben hatte Mira viele Wege beschritten, sich oft für das Ja zu anderen entschieden und dabei ihr eigenes leises Ja überhört. Der Wald wirkte erstaunlich vertraut, wie ein Abbild ihrer selbst, verwurzelt und doch wachsend. Jeder Baum erzählte ihr von Standhaftigkeit und Geduld. Vielleicht war es das, was sie brauchte: die Geduld, endlich Ja zu sich selbst zu sagen.
Ein zweiter Vogel setzte zum Zwitschern ein, neugierig und unerschrocken, als würde er das Echo ihrer Präsenz in der Natur begrüßen. Viele Male zuvor hatte Mira geangelt nach Momenten des Friedens, nur um schlussendlich immer aufs Neue den ständigen Lärm ihrer Gedanken zu ertragen. Doch hier, in diesem Frühlingsmorgen, schien die Antwort ohne Anstrengung zu entstehen.
Sie dachte an all die Wege, die sie bislang gegangen war. An Gelegenheiten, die sie vorbeiziehen ließ, aus Angst, aus Unsicherheit, aus einem Gefühl, dass andere Erwartungen dringlicher wären als ihre eigenen Bedürfnisse. Wie ein flüchtiger, heller Streifen kam die Erkenntnis: "Es ist nicht zu spät." Eine schlichte Wahrheit, einfach und doch bedeutungsvoll.
Plötzlich hielt Mira inne. Die Sonne begann sich durch die Baumkronen zu kämpfen, zertrat den Nebel mit goldenen Füßen, verstreute Lichtflecken auf dem Waldboden. Sie lauschte, schloss die Augen für einen Moment und atmete tief ein. Das Zwitschern, das Licht, der Wald – alles verwob sich zu einem Konglomerat aus Sein, in dem es nur eine Richtung gab: Vorwärts, mit sich selbst an ihrer Seite.
Eine leise Entschlossenheit nahm Form in ihr an. Mira, die so vielen Anderen immer Raum gegeben hatte, schuf nun Raum für sich selbst. Nicht mehr ausweichen, nicht mehr zögern. Die Entscheidung, sich selbst anzunehmen, war leise, aber tiefgreifend. Sie spürte keine Hast, nur eine sanfte Bewegung ihres Seins, das nun in Harmonie mit jedem Schlag ihres Herzens pulsierte.
Mit geöffneten Augen schaute sie auf die stillen, vertrauensvollen Wächter um sich herum. Die Bäume schienen zu nicken, als hätten sie ihre Entscheidung gehört und begrüßten sie in ihrer Reihen. Ein Vergnügungsschauer durchzuckte sie, wie ein erwartungsvolles Flüstern des inneren Kompasses: "Ja, so ist es richtig."
Mira setzte ihren Weg fort, den Pfad entlang, den der Nebel allmählich freigab, während die Sonne ihn leise verdampfte. Und mit jedem Schritt sprach sie jenes leise Ja, diesmal ohne Zweifel getragen zu werden – das Ja zu sich selbst und der Welt, die darauf wartete, umarmt zu werden.
Das Gefühl von Klarheit und Entschlossenheit blieb bei ihr, während der Pfad sich windend und leicht bergab durch den Wald flog. Zum ersten Mal empfand sie das Schauern eines freudigen Erwartens, eines Lebens, das nicht mehr im Flüsterton, sondern mit Offenheit und Selbstachtung gelebt werden konnte.
Als sie schließlich den Wald verließ und das Wohngebiet am Morgen erwachte, vibrierte die Welt in neuem Licht. Die schweren Türen der Gewohnheit öffneten sich, fast unmerklich, und Mira erkannte, dass innere Freiheit wirklich sein konnte, wenn sie es nur zuliess.
Auf den noch unbekannten Wegen lag nichts anderes als die Wahrheit, die Mira schon immer in sich getragen hatte – dass Mut manchmal ganz still ist. Die Bäume flüsterten weiter, während der Morgenhauch sich erhob, um das neue Licht zu begrüßen. Mira lächelte und wusste: Sie war bereit.




