Das Mädchen, das den Schatten fand
Im fahlen Licht des aufziehenden Mondes erhob sich die verlassene Villa wie ein Monument der Vergessenheit. Nebelschwaden zogen durch den dichten Wald, umspielten Träume und Erinnerungen, die Jahrhunderte alt schienen. Nora stand am Rande des Pfades, während die herbstliche Kälte unablässig an ihrer Kleidung zerrte.
Mit einem tiefen Atemzug trat sie näher heran. Der Wind trug das Rascheln der Blätter und das Knistern der Äste, als ob der Wald selbst ihr von den Geheimnissen der Villa erzählen wollte. Eine fast unmerkliche Anziehungskraft zwang sie, weiterzugehen, das knirschende Laub dämpfte ihre Schritte, bis sie schließlich die zerbrochene Tür erreichte.
„Was machst du hier, Nora?“, fragte eine sanfte, fast flüsternde Stimme aus dem Nichts heraus. Es war Elyon, ihr ältester Freund, mehr wie ein verlorener Bruder denn ein Bekannter, der ihren Weg gefunden hatte.
„Ich weiß es nicht“, antwortete sie, der Nachhall ihrer Stimme umkreiste sie wie ein Echo. „Etwas hier… ruft mich.“
Elyon trat verstärkt aus dem Schatten, seine Augen leuchteten in der Dämmerung. „Du weißt, was die Leute sagen, oder? Über das Haus und die Spiegel hier drin?“
Nora nickte, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Geschichten von Bewohnern, die in den Spiegeln verschwunden seien, die Wahrheit ihrer Existenz preisgebend nur dem, der mutig genug war, die eigene Dunkelheit anzuerkennen.
Sie betraten gemeinsam die Eingangshalle. Die Luft war kühl und duftete nach feuchtem Holz und Staub, der schon lange keinen Windhauch gespürt hatte. Im Schein der mitgebrachten Taschenlampe flackerten Reflexionen über abgeblätterte Tapeten und rissige Fensterscheiben.
„Es heißt, die Spiegel zeigen dein wahres Ich“, Elyons Stimme klang gedämpft, ehrfürchtig fast. „Doch nicht jeder ist bereit, sich damit auseinanderzusetzen.“
Nora schwieg. Ihre Füße trugen sie weiter, bis sie zum Raum der Spiegel kam—ein offener Saal, dessen Wände vollständig mit riesigen, reich verzierten Spiegeln bedeckt waren. Der Mond schien durch die großen Fenster und tauchte alles in ein schmeichelndes Licht, das kaum genug Klarheit bot, aber jede einzelne ihrer Ängste bloßlegte.
Ein Schatten regte sich in einem der Spiegel, langsamer, als Nora es vermochte. Ihre Augen trafen auf ein Wesen, das nicht ganz von dieser Welt schien—ein Sammelsurium sich windender Dunkelheit, das sie mit einer Sanftheit zu beobachten schien, die ihr die Luft nahm.
„Ril“, flüsterte Elyon nur, als ob er ihn gut kannte, eine Mischung aus Respekt und Beklemmung in seiner Stimme.
„Was bist du?“, Noras Frage war kaum hörbar, und doch schien das Spiegelwesen sie zu verstehen. Ohne Worte, nur ein kaum merkliches Nicken, lud es sie ein, mehr über sich selbst herauszufinden.
Das Wesen dehnte sich aus, seine Dunkelheit schmiegte sich an die Schatten ihrer eigenen Seele, und Nora erkannte Dinge, die tief in ihrem Inneren verborgen waren—Wünsche, die in der Realität nie Fuß gefasst hatten, Ängste, die nie an die Oberfläche gekommen waren.
„Ist das wirklich… ich?“, fragte sie, doch die Antwort lag nicht in den Worten, sondern in der Erkenntnis, die sich langsam aber sicher in ihrer Brust ausbreitete.
Elyon legte ihr eine Hand auf die Schulter, zurückhaltend aber unterstützend. „Die Villa der Spiegel… zeigt dir nicht, was du bist, sondern was du sein könntest.“
Ril nickte nur, und mit einem letzten Blick auf das Schattenwesen wandten sie sich um, zurück in die Realität, bereit, sich der Wahrheit ihrer selbst zu stellen.
Der Wald empfing sie, der Nebel war dichter geworden, doch Nora spürte eine Leichtigkeit, die sie kaum zu glauben vermochte. Ein neues Kapitel wartete auf sie, eins voller Möglichkeiten und einer Spiegelung, die sie nicht mehr fürchten musste.




