Das Tor zwischen den Welten
Vorlesezeit: ca. 12 Minuten
Die Kerzenlichter warfen flackernde Schatten an die Wände der alten Bibliothek. Jonas stand inmitten hoch aufragender Bücherregale, das leise Knistern der Dochte war das einzige Geräusch, das die Stille durchschnitt. Er fühlte sich oft zu diesem Ort hingezogen – ein Refugium, das ihm eine Art von Frieden bot, den er anderswo nicht fand.
In dieser Nacht schien jedoch etwas anders zu sein. Der Duft von alten Seiten und Wachs vermischte sich mit einem fremdartigen Aroma, das er nicht zuordnen konnte. Neugierig folgte er dem Geruch, der ihn zu einem versteckten Regal führte, zu einem Buch, das selbst in dieser Umgebung aus anderen Zeiten zu stammen schien. Es war mit verwobenen Mustern verziert, die im schwachen Licht unergründlich tanzten.
„Es scheint, als hättest du das richtige Buch gefunden“, erklang eine sanfte Stimme hinter ihm.
Jonas wirbelte herum. Eine junge Frau mit Haaren, die im Kerzenlicht glitzerten, stand dort. Ihre Augen, tief und klar, schienen seine Seele zu durchschauen. „Ich bin Liora,“ sagte sie lächelnd, „und das ist Aris“, sie deutete auf eine Krähe, die auf einem Bücherstapel thronte.
Aris neigte ihren Kopf zur Seite und gab einen krächzenden Ton von sich, als wäre sie einverstanden. „Dieses Buch ist der Schlüssel zu einer anderen Welt,“ fuhr Liora fort. „Es öffnet das Tor zwischen den Träumen und der Wirklichkeit.“
Jonas fühlte eine unerwartete Ehrfurcht und Neugier, gemischt mit einem Schaudern, die seinen Rücken hinab lief. „Und warum zeigt ihr mir das?“ fragte er zögernd.
„Weil du einer von uns bist“, sagte Liora mit einer Gewissheit, die Jonas trotz seiner Zweifel überzeugte. „Du hast die Fähigkeit, zwischen den Welten zu reisen, die Grenzen des Geistes zu durchbrechen.“
Aris flatterte hinab und setzte sich auf Lioras Schulter, ihre dunklen Augen fixierten Jonas aufmerksam. „Folge uns, wenn du bereit bist. Versteh, was jenseits dieser Welt liegt.“
Ein Teil von Jonas schrie danach, das Angebot abzulehnen, aber die Neugier gewann. Er öffnete das Buch, und eine kühle Brise, die durch die Seiten zu wehen schien, schnitt durch die blaue Dämmerung der Bibliothek.
Als er einen Schritt nach vorne machte, lösten sich die Schatten von den Wänden und umhüllten ihn. Jonas fand sich auf einer Lichtung wieder, die von einem seltsamen, phosphoreszierenden Glühen erfüllt war. Auf der anderen Seite der Lichtung schimmerte ein Tor, von alten Symbolen verborgen, die ein leises, geheimnisvolles Flüstern von sich gaben.
„Das Tor zwischen den Welten“, murmelte Liora, die neben ihm aufgetaucht war. „Dort musst du hindurchtreten, um dein wahres Selbst zu finden.“
Jonas fühlte eine aufregende Freiheit. In dieser anderen Welt schien alles möglich – hier wurden die Begrenzungen seiner Realität durch die Unendlichkeit des Möglichen ersetzt.
Mit einem letzten Blick zu Liora und Aris schritt Jonas durch das Tor. Ein Gefühl von Schwerelosigkeit ergriff ihn, als die Farben der Welt zu einem Strudel aus Licht und Schatten verschmolzen. Die Zeit fühlte sich gedehnt, irrelevant an.
Er fand sich in einer Stadt aus Licht und zwischen Träumen umherwandelnder Menschen wieder. Dort, in dieser Stadt, erkannte Jonas, dass jede Ecke seines Geistes, unentdeckt und verborgen, nun zum Spielplatz seiner inneren Freiheit wurde.
Liora tauchte aus der Menge auf und berührte seine Schulter. Ihre Augen strahlten eine alte Weisheit aus. „Die Welt ist weit, Jonas. Suche und du wirst immer mehr finden.“
Mit einem letzten Gefühl der Verbundenheit kehrte Jonas durch das Tor zurück. Die Bibliothek war still, das Flackern der Kerzen beruhigend vertraut. „Die Grenzen liegen nur im Geist“, murmelte Jonas zu sich selbst, wissend, dass seine Reisen gerade erst begonnen hatten.
Liora und Aris waren fort, doch das Wissen um die andere Welt blieb. Jonas schloss das geheimnisvolle Buch und stellte es zurück auf das Regal, bevor er durch die Dunkelheit der Bibliothek hinaus in die kühle Nacht trat, bereit, die unendlichen Möglichkeiten seiner Träume zu erkunden.




