Der Abendzug der Schafe
Es war ein lauer Frühlingsabend, als die Sonne gerade dabei war, sich am Horizont schlafen zu legen. Lara saß mit ihrem Großvater, Opa Emil, auf einem kleinen Holzhocker am Rande der Weide. Der Duft von frisch geschnittenem Gras wehte ihnen entgegen, und das leise Summen der Bienen, die in den nahen blühenden Obstbäumen verweilten, klang wie ein sanftes Wiegenlied.
Bruno, der umsichtige Schäferhund, trottete langsam entlang des Zauns. Er achtete darauf, dass kein Schaf von der Herde abkam. „Schau, Lara“, sagte Opa Emil mit seiner warmen, rauen Stimme, die Lara immer an den Duft von Pfefferminze erinnerte, „es ist Zeit für den Abendzug der Schafe.“
Lara schaute neugierig zum Feldweg, der sich wie ein schmaler, geflechteter Pfad durch das saftige Grün zog. Darauf trottierten die Schafe, eines nach dem anderen, in einer ruhigen, gleichmäßigen Reihe.
„Wollen wir zählen?“, fragte Lara und kicherte, als ein kleines Lamm sein Bräunchen niesend schüttelte. „Das mache ich gerne!“, bemerkte sie lächelnd.
„Fang an“, ermutigte sie Opa Emil. „Eins, zwei, drei…“, begann Lara langsam zu zählen, während das Plätschern eines kleinen Baches in der Ferne zu hören war und das Licht der sinkenden Sonne golden auf dem Weidegras tanzte.
Bruno bellte einmal, als wollte er helfen, die Schafe auf merkwürdige Art zu zählen, und setzte sich neben Lara, seinen Kopf auf ihrem Schoß ruhend. Laras Herz fühlte sich warm an, als sie weiterzählte. „Acht, neun, zehn…“, murmelte sie, während ihre Augen schwerer wurden.
Opa Emil fing an, eine sanfte Melodie zu summen, die oft auf ihren gemeinsamen Spaziergängen erklang. Die Schafe trottierten weiter, und die Bewegung ihrer flauschigen Körper schien in diesem abendlichen Licht fast magisch. Jedes Mäh-schien, als flüstere es gute Nacht.
„Opa, warum zählen wir Schafe?“, fragte Lara leise, ohne ihr Zählen zu unterbrechen.
„Weil es den Kopf beruhigt und die Gedanken langsam einschlafen lässt“, antwortete Opa Emil zufrieden, während er aufstand, um Lara eine warme Jacke um die Schultern zu legen.
Laras Augenlider wurden schwerer und schwerer. „Sechzehn, siebzehn, achtzehn…“, flüsterte sie, beinahe schon im Traum.
Der Wind wehte sanft durch die Zweige des großen Walnussbaums, und das Rascheln der Blätter vermischte sich mit dem leisen Atem der Schafe.
„Neunzehn, zwanzig…“, hörte Opa Emil seine Enkelin murmeln, bevor ihr Kopf sanft gegen seine Schulter sank. Er lächelte zufrieden, hob Lara vorsichtig hoch und trug sie zurück zum Haus, während Bruno treu an seiner Seite folgte.
Die Abendluft war nun deutlich kühler. Doch das Wissen um die geborgene Nähe von Bruno, der ihre Fersen genehmfusselte, und von Opa Emil, der liebevoll mit einer Hand über ihren Rücken strich, vermittelten Lara das Gefühl vollkommener Geborgenheit.
Als die Weide in der Dunkelheit verschwand, flüsterte Opa Emil leise: „Jetzt ruh gut, meine Kleine.“ Und die Sterne zwinkerten fröhlich auf ihren Weg über den Nachthimmel. Lara lächelte im Schlaf, bereit zu träumen von flauschigen Schafen, die bis in ihre Träume tanzten.




