Der Atem über dem See
Als Mara an diesem Wintermorgen den schmalen Holzsteg betrat, der über den zugefrorenen See führte, wurde sie von der tiefen Stille der verschneiten Landschaft empfangen. Die Oberfläche des Sees glänzte unter der Morgensonne, blassblau, ein glattes Spiegelbild des Himmels. Ihr Atem formte kleine Wolken in der kalten Luft, die sich leise auflösten und als winzige Wassertröpfchen auf ihr Gesicht zurückfielen.
Neben ihr trabte Rumo, ihr sorgfältig ausgewählter Begleiter, ein sanftmütiger Labrador mit einem dichten, maulwurfgrauen Fell. Der Hund hielt immer wieder inne, schnupperte und sah mit wachsamen Augen zu Mara auf, als verstehe er den Zweck dieses besonderen Morgens.
Mara strich Rumo über den Kopf, bevor sie sich in die Mitte des Stegs begab, wo sie auf unzählige Male abgetretene Bretter starrte, die die Fußspuren aller begleiteten, die jemals hier gestanden hatten. “Es ist nicht nur ein Atemzug, sondern ein Loslassen”, erinnerte sie sich an die Worte ihrer Therapeutin, Jana.
In den vergangenen Wochen hatte Jana sie von ihrer schmerzhaften Trauer fortgeführt und Mara geholfen, die erdrückenden Wintergedanken, die den Verlust ihres Partners begleiteten, zu verarbeiten.
Die Kälte kroch durch Maras Stiefel, während sie die Mitte des Stegs erreichte und anfing, tiefer zu atmen. “Im Einatmen fühle ich mich lebendig. Im Ausatmen lasse ich los”, hatte Jana erklärt und sie gebeten, diese Worte in ruhigen Momenten zu wiederholen.
Sie schloss die Augen. Das Einatmen brachte die trockene, frostige Luft in ihre Lungen, belebend, wie versprochen. Der Widerhall ihres Ausatmens verloren sich in der Weite über dem See. Rumo legte sich neben sie, seine Wärme gegen ihren Knöchel gelehnt, und Mara fühlte, wie sich ihre Anspannung langsam auflöste.
Mit geschlossenen Augen erinnerte sie sich an die letzten Weihnachten mit Ben. Die Lichter, die noch immer in ihren Erinnerungen strahlten, warfen ein warmes Licht in das Augenblickliche. “Lass die guten Momente nicht von der Trauer verschluckt werden”, hatte Jana oft betont und genau jetzt schien das wirklich möglich.
Mara öffnete die Augen und sah die Welt um sie herum in einem neuen, tröstlichen Licht. Sie spürte die Unterstützung der Landschaft, als sei der Winter, trotz seiner Kälte, nachsichtig und versöhnlich.
“Heute bin ich hier”, flüsterte sie in den Morgen, klarer als jedes Gebet, das sie in den letzten Monaten gesprochen hatte. An ihrer Seite blinzelte Rumo, hob den Kopf und spähte über die reflektierende Fläche.
Jana hatte versprochen, dass es möglich sei, die Dunkelheit des Winters im Herzen zu tragen, ohne sich darin zu verlieren. Das sanfte Knacken des Eises unter ihren Füßen beruhigte sie auf eine seltsame, friedliche Weise, als ob der See entsprechend ihrer fortschreitenden Heilung lebendig wurde.
Von dieser Mitte des Stegs aus, die zu ihrer kleinen, heiligen Insel geworden war, begann Mara, die letzten Monate loszulassen. Ein langsamer, träger Nebel kroch über den See und nahm die klaren Linien des Horizonts weg.
Mara trat zurück, ließ Rumo voranschreiten. Gemeinsam machten sie sich auf den Rückweg; der Steg, gefroren, knarrte unter ihrem langsamen Gewicht. Als sie zum Ufer zurückkehrten, drehte sich Mara ein letztes Mal in Richtung des eisumhüllten Wassers. Ein stiller Dank für diesen Moment, für das Erkennen der Kraft in der Ruhe.
Später, als die Sonne sich dem Nachmittag zuneigte und scharlachrotes Licht auf den weißen Schnee warf, saß Mara mit Rumo vor dem Kamin. Ihr Herz war leichter, als der Atem der Trauer sich in eine Erinnerung verwandelte. Der Winter würde noch eine Weile bleiben, doch es fühlte sich an, als hätte sie begonnen zu lernen, wie man den Winter im Herzen halten konnte, ohne zu erfrieren.




