Der Besuch aus dem Schneeverse
Jo saß gedankenverloren auf dem alten fliederfarbenen Sofa in ihrem kleinen Appartement, während draußen die Nacht wie Diamantstaub über der ganzen Stadt lag. Schneeflocken schwebten langsam aus einem aufgerissenen Himmel herab, der sich über die Dächer spannte und dem Weihnachtsabend eine eigenartige Zeitlosigkeit verlieh. Drinnen war es ruhig. Der Kühlschrank summte leise, während nur noch das gelegentliche Knacken der Heizkörper ein Zeichen von Wärme in der Kälte draußen war.
Jo seufzte leise, ihre Gedanken kreisten um die verpassten Möglichkeiten der letzten Jahre. Jobs, Beziehungen, Orte, die sie nicht gesehen hatte. Insgeheim fragte sie sich immer wieder, was hätte sein können, wäre sie doch nur etwas mutiger gewesen. Die Dunkelheit draußen drang durch die großen Fenster, die den Raum umschlossen wie ein eigenes Universum. Ein Universum aus Schnee und Erinnerungen.
Ein leises Klopfen an der Tür riss Jo aus ihren Gedanken. Vielleicht war es Nachbarin Kira, die oft Hilfe beim Tragen der Einkäufe brauchte und sich gerne revanchierte, indem sie hausgemachte Kekse vorbeibrachte. Doch als Jo die Tür öffnete, war es nicht Kira, die auf der Schwelle stand, sondern jemand, der ihr auf gespenstische Weise ähnelte.
„Hallo“, sagte die Gestalt, ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als ob sie aus einer anderen Welt kam. Fassungslos stand Jo da und blickte in ein Gesicht, das exakt ihr eigenes Spiegelbild hätte sein können, abgesehen von den schneeweißen Haaren, die der Fremden eine sanfte, fast transzendente Erscheinung verliehen.
„Ich bin du“, sprach die Gestalt, ihre Augen von einer seltsamen, durchdringenden Ruhe erfüllt. „Oder die, die du hättest sein können.“
Einen Moment lang, der sich wie eine Ewigkeit anfühlte, konnte Jo nichts anderes tun, als in diese Augen zu schauen, die ihre eigene Seele zu spiegeln schienen. Die Kälte der Nacht drang durch den Türrahmen, mischte sich mit der Wärme des Appartements und ließ Jo einen Schauer über den Rücken laufen.
„Woher kommst du?“, fragte Jo, unsicher, ob sie vielleicht den Verstand verlor oder ob dies eine Art von magischer Realität war, die sie nie zu erleben gewagt hätte.
„Aus einer Welt, in der Entscheidungen anders getroffen wurden. Einer Welt, die der deinen auf so viele winzige Arten gleicht und doch anders ist.“ Der Klang der Stimme der Fremden war beruhigend, fast wie ein Schlaflied, das in einer schneebedeckten Nacht durch den Wind getragen wird.
Jo lud die Gestalt ein, einzutreten, und schloss die Tür hinter ihr. Gemeinsam saßen sie auf dem Sofa, während draußen der Schnee langsam, aber unerbittlich weiterfiel und die Welt in ein ruhiges Weiß hüllte. Sie tauschten Geschichten aus – eine Art Zwiegespräch beider Versionen ihrer selbst, das Jo Einblicke in das Ich ermöglichte, das sie nie geworden war.
Die Spiegelgestalt schilderte von Abenteuern, von Wagnissen, die Jo nie unternommen hatte, und von der Liebe, die sie in Momenten fand, die Jo nie kennenlernen durfte. Während sie sprach, bemerkte Jo langsam, wie die Grenzen ihrer beiden Realitäten verschwammen, eine Art magische Verbindung, die sie noch nie erlebt hatte. Der Raum schien sich zu weiten und zu verengen, ein Kaleidoskop von Möglichkeiten, das unaufhörlich neue Formen annahm.
Und dann, so leise, wie sie gekommen war, erhob sich die Gestalt schließlich von ihrem Platz, ihre schneeweißen Haare umspielten ihr Gesicht wie ein Heiligenschein aus Schnee. „Es gibt immer noch Zeit, Jo“, sagte sie mit einem Lächeln, das Wärme ebenso versprühte, wie die Heizungen, die in der Winterkälte knackten.
Jo nickte nur, unfähig zu sprechen. Wie immer die Zukunft auch sein mochte, fühlte sie, wie ein Teil ihrer selbst, ein Teil, den sie so lange verborgen hatte, nun bereit war, ans Licht zu treten.
Nachdem die Gestalt verschwunden war, stand Jo am Fenster und sah hinaus in die wirbelnde Schneenacht. Dort, unter dem aufgerissenen Himmel, lag eine Stadt voller Möglichkeiten, jedes Dach ein Ozean der Zeit. Die weiße Decke draußen versprach eine neue Morgenröte, Bürolichter in der Ferne blinkten wie Sterne am Horizont. In dieser stillen, verzauberten Nacht akzeptierte sie nicht nur das, was hätte sein können, sondern auch das, was noch kommen würde.
In diesem Augenblick war Jo nicht allein, sondern eins mit sich und der Welt, voll Gewissheit, dass die wahre Magie des Lebens genau im Hier und Jetzt zu finden war.




