Der Buchhändler ohne Schatten
Der scharfe Klang der Glocke hallte durch den kleinen Buchladen, als Ela die Tür öffnete. Ein kalter Windstoß folgte ihr, brachte den Duft von Schnee und ein leises Pfeifen der winterlichen Nacht mit sich.
Der Laden wirkte fast verlassen, doch der sanfte Schein der Leselampen tauchte die hohen Bücherregale in ein warmes Licht. Das dunkle Holz knarrte leise, als Ela vorsichtig durch die engen Gänge ging. Ihr Blick glitt über die Einbände, die bunte Geschichte um Geschichte versprachen.
„Kann ich Ihnen helfen?“ Die Stimme kam unerwartet tief und weich aus einer Ecke, wo ein Mann zwischen den Schatten der Bücherregale stand. Seine Augen huschten in einem seltsamen Glanz über ihre Gestalt.
„Ich…“ Ela zögerte. „Ich suche ein Buch, das…“, ein kurzer, unsicherer Blick auf ihren Notizzettel, „etwas in mir hervorbringt.“
Der Buchhändler lächelte. „Da haben Sie sich die richtige Jahreszeit ausgesucht. Der Winter und gute Bücher sind beste Freunde.“
Sein Name war Rafa, und als er sich bewegte, bemerkte Ela das Fehlen eines soliden Details: Er hatte keinen Schatten.
Sie verdrängte einen aufkommenden Schauer und folgte ihm in das Hinterzimmer des Ladens. Es war klein, intim, vollgestopft mit Bücherstapeln, die vom Boden bis nahezu zur Decke reichten. Ein alter Ofen spendete behagliche Wärme, während draußen leise der Schnee fiel.
Rafa zog ein Buch hervor und reichte es Ela. „Man sagt, Geschichten sind wie Schatten ihrer selbst, zwischen Dimensionen verborgen, bis jemand sie entdeckt. Vielleicht finden Sie hier, wonach Sie suchen.“
Ela nahm das Buch entgegen, darin lag der Hauch von längst Vergessenem. Sie schlug es auf und darüber legte sich plötzlich die Gewissheit, dass diese Worte für sie bestimmt waren. Ihr Herz klopfte im Takt einer Erinnerung, die weder Raum noch Zeit kannte.
„Warum…“, begann Ela und hob den Blick. Rafa stand im Licht, selbst jedoch lichtlos. Ein warmes, sanftes Nicken entglitt ihm.
„Sie fragen sich, warum ich ohne Schatten bin“, sagte er mit leiser Stimme, die beinahe ein Lachen unterdrückte. „Vielleicht ist es der Preis für all die Geschichten, die ich hier hüte.“
Ela schaute ihn nachdenklich an. Es war nicht das Fehlen des Schattens, das sie irritierte, sondern die ungreifbare Vertrautheit, die zwischen ihnen bestand.
Stunden vergingen wie im Flug. Sie las, hin und wieder unterbrachen sie Gespräche über ihre Lieblingsautoren, das Geheimnis der Worte und das, was an Winterabenden verloren geht.
„Ich sollte gehen“, sagte sie schließlich, als sie die frostige Dunkelheit durch das Fenster erblickte. Doch ihr Widerwillen wog schwerer als die bevorstehende Kälte.
„Erinnern Sie sich, Ela, was fehlt, kann leuchten“, murmelte Rafa beinahe abwesend.
Aber da war kein Mangel an Licht – weder draußen noch zwischen ihnen. Und als Ela den Buchladen verließ, sah sie sich um, nur um ihre eigene Gestalt im Mondlicht zu sehen, raffiniert und ungebrochen.
Ein letzter Blick zurück: Der Buchhändler trat in den Hof hinaus, das Licht des Mondes verweilte auf der Schneedecke, ohne seinen Schatten zu werfen. Sein Lächeln war ein stilles Versprechen, verborgen und doch glanzvoll.




