Der Fall der stillen Brücke
Die Nacht lag schwer über dem Hafen. Ein dichter Nebel kroch vom Fluss herauf und verhüllte die stillgelegte Industriebrücke, die jeder in der Stadt nur als die ‘stille Brücke’ kannte. Die einzige, die in dieser kalten Oktoberluft noch hinausging, war Kommissarin Voss. Ihre Schritte hallten leise auf dem rostigen Metall der Brücke wider.
Neben ihr schritt Reporter Lenz, ein Mann mit scharfem Verstand und einem Notizblock, der stets zur Stelle war. Er hatte ein untrügliches Gespür für Geschichten, die mehr verbargen, als sie auf den ersten Blick preisgaben.
„Glaubst du wirklich, es gibt hier etwas zu finden?“, fragte Lenz, während er seine Taschenlampe über das metallene Geländer wandern ließ.
„Hier ist etwas nicht richtig“, antwortete Voss knapp und blieb stehen. Sie blickte in die Dunkelheit, als würde sie dort Antworten erwarten.
Alles hatte mit einem anonymen Hinweis begonnen. Ein alter Mann, der jeden Abend genau zur gleichen Zeit über die Brücke spazierte, war plötzlich verschwunden. Kein Abschiedsbrief, kein Anruf. Einfach weg. Die wenigen, die ihn kannten, beschrieben ihn als menschenscheu, aber harmlos.
„Vielleicht ein Unfall“, murmelte Lenz und schaute prüfend über die Schulter zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. „Oder er ist fortgezogen.“
„Nein, so einfach ist es nicht“, widersprach Voss. „Es gibt zu viele offene Fragen. Seine Wohnung sah aus, als hätte er nur einen kurzen Spaziergang machen wollen.“
Der Wind blies ihr eine Prise feuchte Herbstluft direkt ins Gesicht und ließ sie frösteln. Die Vorstellung, dass der alte Mann irgendwo hier im Nebel verschwunden sein könnte, schien ihr unwirklich.
„Hier drüben!“, Lenz‘ Stimme war plötzlich voller Aufregung. Er hatte seine Taschenlampe auf etwas im Wasser gerichtet.
Ein leises Glitzern fiel auf. Voss trat näher und spähte hinunter. Irgendwas trieb dort, etwas, das nicht vom Fluss zu stammen schien.
„Ich hole mein Handy. Wir brauchen Licht“, sagte Voss und zog ihr Telefon hervor. Der Schein der Taschenlampe war schwach, aber es reichte. Langsam erkannte sie Umrisse, eine stumme Silhouette, die vom flachen Wellenschlag umhergestoßen wurde.
„Das könnte ein Hinweis sein“, bemerkte Lenz, während er weiter suchte.
Voss holte zitternd eine Zigarettenschachtel heraus und zündete sich eine an, beugte sich über das Geländer und beobachtete aufmerksam den düsteren Spiegel des Wassers.
„Hattest du schon einmal das Gefühl, dass etwas auf dich zukommt, und du kannst nichts dagegen tun?“ fragte sie, ohne Lenz wirklich anzusehen.
Lenz schwieg, was in der allgegenwärtigen Stille mehr sagte als jedes Wort.
„Ich habe ein ungutes Gefühl“, gestand Voss schließlich und ließ den Rauch in die kühle Nachtluft entweichen.
Der alte Mann, die Brücke, die Dunkelheit – es war, als ob sie alle Teile eines Puzzles waren, das nur darauf wartete, zusammengesetzt zu werden.
„Wir sollten zurückkommen, wenn es Tag ist“, schlug Lenz vor, als sie schließlich die Umgebung ohne weitere Vorkommnisse hinter sich ließen.
Voss nickte stumm, den Blick immer noch in den nächtlichen Fluss gerichtet. Manchmal, so wusste sie, war die Wahrheit näher als man glauben wollte. Aber die Geduld, sie zu finden, erforderte Mut und Zeit.
Als sie den trüben Hafen hinter sich ließen, blieb nur die Erinnerung an die Stille der Brücke, die nun für immer mit einer ungelösten Frage verbunden war.




