Der Kuss an der Straßenbahnlinie 3
Der Schnee fiel in dichten, weichen Flocken, die fast lautlos auf den Boden sanken und eine weiße Decke über die Straßen legten. An der Haltestelle der Straßenbahnlinie 3 stand Elias, fest eingepackt in einen dicken Mantel, den Kragen hochgeschlagen, während er den Mützenschatten auf seinem Gesicht spürte. Die kalte Luft biss an den wenigen ungeschützten Stellen seiner Haut, eine Erinnerung daran, dass der Winter seine feste Umklammerung über die Stadt gelegt hatte.
Das gelbe Schild der Haltestelle schimmerte im gedämpften Licht der Straßenlaternen, und für einen Moment betrachtete Elias die sanften Kurven der Buchstaben als einen sonderbaren Anker in einer sich ständig bewegenden Welt. Die aufkommende Dunkelheit wurde hin und wieder von den strahlenden Lichtern vorbeirauschender Fahrzeuge unterbrochen – einem kurzen Lichtertanz, bevor sich der Friede der Nacht wieder über die Szenerie legte.
Er hatte den Weg zur Haltestelle fast unbewusst eingeschlagen, ein Ritual, das ihn seit Monaten begleitete. Seit der Trennung von seiner Freundin hatte er seine Abende oft hier beendet, mit dem versöhnlichen Klang der eintreffenden Straßenbahn als stumme Begleiterin seiner Gedanken.
Heute war aber anders. Elias rieb sich die Hände, um sie zu wärmen, während er weiter auf die Schneeflocken starrte. Der Gedanke an eine Veränderung, an etwas Neues, gewann an Raum in ihm. Vielleicht trug die Weihnachtszeit – mit all ihren unausgesprochenen Versprechen von Neuanfängen – ihren Teil dazu bei.
Plötzlich bemerkte er eine Bewegung neben sich. Eine Frau, die sich von hinten genähert hatte, stand nun ebenfalls wartend an der Haltestelle. Sie hatte eine Mütze tief ins Gesicht gezogen und einen bunt gemusterten Schal so um den Hals geschlungen, dass nur die Augen sichtbar blieben. Augen, die ihn mit einem Anflug von Neugier betrachteten.
“Schöner Abend, nicht wahr?”, sagte sie mit einer Stimme, die Wärme in die kalte Luft trug.
Elias zuckte zusammen, überrascht, dass jemand diese Szenerie als schön bezeichnete. Dennoch, er fand sich lächelnd. “Ja… auf eine sanfte, beruhigende Art”, antwortete er und hielt kurz inne, bevor er hinzufügte: “Zu Weihnachten passt es irgendwie.”
Sie lachte leise. “Ich bin Sara,” sagte sie und zog den Schal ein Stück tiefer, genug, um ein Lächeln freilegen.
“Elias”, entgegnete er, während er den herzlichen Anflug in seinem Inneren spürte. Sie wechselten einige Worte, unverfänglich, sich aneinander tastend wie zwei leise Stimmen im Dunkeln.
Die Ankunft der Straßenbahn kündigte sich mit einem fernen, mechanischen Summen an, das schnell anschwoll, während die Lichter durch die fallenden Flocken blitzten. Doch Elias’ Blick blieb auf Sara gerichtet, unfähig, sich von der neuen Vertrautheit in ihren Augen zu lösen.
“Steigst du ein?”, fragte sie mit einer kleinen, aber entscheidenden Pause in ihrer Stimme.
Er zögerte. Ein kurzer Blick hinüber zu der Fahrerin, Frau Novak, die wie ein stiller Dirigent vor ihrem schneebedeckten Orchester stand, ließ ihn innehalten. Elias erspürte den Moment, eine Sekunde, die sich in die Unendlichkeitslinie bog.
“Eigentlich bleibe ich lieber hier…,” sagte er schließlich, ohne sich von den Worten abwenden zu können.
Sara nickte, das Lächeln intakt, als würde sie die tiefere Bedeutung verstehen. “Vielleicht sehe ich dich morgen… oder irgendwann anders?”, meinte sie und trat vorsichtig zurück in die sich öffnende Tür der Straßenbahn. „Vielleicht,” gab er zurück, den Augenblick sensibel konservierend.
Die Bahn setzte sich in Bewegung, und Elias blieb stehen, während die Erinnerungen an Worte und Lächeln sich wie Wellen um ihn schlangen. Der Abend glitt weiter in die Nacht, und der Schnee fiel weiter – so unbemerkt und tröstlich wie zuvor.




