Der Mann im Spiegel
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Der Wintermorgen legte sich grau und schwer auf Leons Altbauwohnung. Die Kälte zog durch die schlecht isolierten Fensterrahmen herein, während die Heizung leise gegen die unwirtliche Kälte arbeitete. Leon saß in seinem abgenutzten Sessel, das lange nicht mehr gelüftete Buch in den Händen, sein Geist jedoch unsanft immer wieder von einem unheimlichen Anblick abgelenkt: Der Spiegel gegenüber.
Es war ein Fund auf dem Flohmarkt gewesen, ein solider, wenn auch verwitterter Holzrahmen um ein Glas, das seine besten Zeiten lange hinter sich hatte. Kleine Kratzer und trübe Flecken machten den Blick unklar – zumindest solle man das denken. Aber in letzter Zeit, seit einer Woche vielleicht, veränderte der Spiegel die Art, wie Leon sich selbst und seine Umgebung wahrnahm.
Jedoch nicht auf die Art, wie ein simpler Gegenstand es könnte. Nein, dieser Spiegel schien ihm etwas mehr zu zeigen als das Hier und Jetzt. Leon schien darin eine andere Szene zu erblicken: Sich selbst, nur leicht verändert – älter, vielleicht erschöpfter, vor Entscheidungen stehend, die er selbst nicht verstand. Diese Vision dehnte sich, als wäre sie eine gelebte Zukunft, gefroren in der reflektierten Tiefe. Er strich durch sein Haar, das sich noch nicht in der Vorstellung des Spiegels ergraut hatte.
Die Distanz des allgegenwärtigen Grautons des Morgens legte sich wie ein Katarrh über den Tag. In Gedanken versunken, vergaß Leon für einen Moment die Zeit, bis das Klirren von Porzellan in der angrenzenden Küche ihn zurückholte. Der Tee war längst erkaltet.
Um den Kopf frei zu bekommen, wandte er sich vom Spiegel ab – aber es war, als hätte das Bild sich in seiner Vorstellung eingebrannt. Am Abend war er gefangen von der Neugier und einer leichten Angst, die ihm im Nacken saß. Er trat näher heran, hob unterbewusst die Hand, ging in die Hocke und suchte nach einem Detail, einem Anhaltspunkt, warum seine Zukunft in düsteren Schatten belagert schien.
Dann, als das Dämmerlicht hereinbrach, hörte er eine Stimme – keine Worte, sondern ein Flüstern von Gefühlen und Eindrücken, die in ihm widerhallten. Er hielt inne, spürte die Kühle des Glases gegen seine Fingerkuppen und zog zurück, so schnell wie jene Stimme in seinem Kopf verhallte.
Die Tage zogen geisterhaft an ihm vorbei, und Leons Besessenheit wuchs. Er begann, die Szene im Spiegel zu analysieren wie ein Historiker, der versuchte, die Mauerstücke einer verlorenen Zivilisation wieder zusammenzusetzen. In der Vision waren da Menschen – Gesichter verblasst, aber vertraut. Es waren Erinnerungen, die ihn dazu brachten, nach einem vergangenen Gefühl zu greifen, das längst verblüht schien.
“Wer bist du in deiner tiefsten Wahrheit?” Diese Frage hallte von Neuem durch seinen Geist. Er fragte sich, wohin sein Lebensweg ihn wirklich führen könnte. War es die einfache Vorhersehung seines Scheiterns, die er versuchte abzuwenden?
In einer Nacht von seltsamer Stille, die zwischen den Schneeflocken hing, entschloss er sich, diesen Visionen entgegenzutreten. Er stellte sich frontal vor den Spiegel und wartete mit einer Willenskraft, die er aus den Tiefen seiner Erschöpfung schöpfte. Doch anstelle eines Bildes sich selbst gegenüber war es nun der Spiegel, der verblieb – eine reflektierte Leere, die ihn für einen Augenblick einfing.
Da war kein endgültiger Punkt der Erlösung, keine Klarheit. Stattdessen erschien eine Anordnung von Bildern, Fragmente, die seine Seele in neuen Farben zeigten. Die Zukunft, die er suchte, begann im Verstehen seiner Gegenwart. Er wandte den Blick nicht mehr ab, sondern ließ die Hoffnung auf Veränderung durch sich gleiten, verankerte seine Seele im Augenblick.
Als der Morgen anbrach, und die graue Wolkendecke riss, fühlte sich Leon ungewöhnlich leicht. Die Geräusche des Tages erwachten mit neuer Bedeutung. Der Spiegel verriet ihm nur ein einfaches Detail: Nicht die Zukunft gab ihm die Antworten, sondern die sanfte Erkenntnis, dass die Veränderung in der Akzeptanz des Jetzt verborgen lag.
Zum ersten Mal seit langer Zeit verließ Leon die Wohnung, ohne den Spiegel zu meiden oder zu fürchten. Die Welt draußen war immer noch von kalter Winterluft durchzogen, jedoch trug er in sich ein Feuer, das Wärme spendete. Der Spiegel verblieb, ruhend an Ort und Stelle, bereit, jede Erinnerung schweigend mit ihm zu teilen.
Die Zukunft hatte kein Drehbuch mehr. Leon wusste, sie lag in seinen Händen im stillem Einvernehmen mit sich selbst. War der Spiegel Magie, eine Illusion, oder Spiegel seiner Wünsche und Ängste? Diese Fragen spielten keine Rolle mehr. Heute entschloss er sich, seinen Teil der Geschichte zu beginnen.




