Der Riss im Schneehimmel
Der Schnee fiel in schweren, dichten Flocken, bedeckte die Dächer der alten Häuser und legte einen feinen Schleier über die von Laternen erleuchtete Altstadtgasse. Noa zog den Schal fester um den Hals und atmete tief ein. Die Luft war klar, beinahe stechend, und sie hinterließ winzige Kristalle auf ihren Wimpern.
Es war Heiligabend, doch die Straßen waren fast leer. Nur das Flackern der verschneiten Laternen begleitete sie, als sie langsam durch die verlassene Gasse schlenderte. Sie mochte diese Einsamkeit, das Gefühl, dass die Stadt um sie herumschlief, während sie allein ihren Gedanken nachhing. Doch heute Abend war etwas anders. Etwas in der Luft, eine Unruhe, die sie nicht greifen konnte.
An der Ecke der Gasse, neben einem kleinen Laden mit einem staubigen Schaufenster, entdeckte sie Elin, die Krämerin. Seit Jahren führte Elin diesen Laden, und Noa mochte ihre herzliche Art, auch wenn ihr Geschäft zur Weihnachtszeit heutzutage kaum Kunden anzog.
„Noa, mein Kind, du entwickelst dich zur Nachtwanderin“, rief Elin mit einem Lächeln, das zwischen Besorgnis und Freude schwankte.
Noa blieb stehen und erwiderte das Lächeln. „Und du bist wieder länger auf?“ fragte sie neckend.
„Alte Gewohnheit“, winkte Elin ab. „Willst du hineinkommen und einen Tee trinken?“
Noa sah zum Himmel auf, der nun eine seltsame, unheimliche Ausstrahlung hatte. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Dann schüttelte sie den Kopf. „Ich glaube, ich werde noch ein bisschen spazieren“, sagte sie.
Elin nickte verständnisvoll. „Pass auf dich auf, ja?“
Als Noa weiterging, erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf etwas im Himmel. Eine feine Linie, kaum sichtbar, die sich durch den Nachthimmel zog, als wäre dort ein Riss. Sie blieb stehen, blinzelte, aber als sie den Kopf neigte, verschwand diese unsichtbare Linie. Was war das? Ein Trick ihres müden Geistes?
Sie lief weiter, aber der Gedanke ließ sie nicht los. Etwas Besonderes war in dieser Nacht, eine Spannung, die ihr im Magen lag. Zwischen den flackernden Laternen und den stillen Häusern hätte sie schwören können, dass sie beobachtet wurde. Und dann, aus dem dunklen Schatten einer Gasse, trat ein Mann. Ein Fremder, seine Augen funkelten im schwachen Licht.
„Du hast es auch gesehen, nicht wahr?“ fragte er, seine Stimme klang wie das leise Rauschen einer verborgenen Welt.
Noa zögerte. „Was habe ich gesehen?“
„Den Riss“, sagte er und deutete zum Himmel. „Nicht viele können ihn sehen. Es passiert nur in magischen Nächten wie dieser.“
Etwas in seiner Stimme ließ Noa frösteln, doch nicht vor Kälte, sondern wegen einer Ahnung von dem, was möglicherweise kommen würde.
„Wer bist du?“ fragte sie schließlich.
Ein schwaches Lächeln zuckte um seine Lippen. „Ein Wanderer. Ich komme aus einer anderen Welt, die mit deiner verbunden ist, dünner als ein Blatt Papier an dieser Stelle. Der Riss ist der Zugang. Ein Pfad in eine andere Realität.“
Noa spürte, wie sich bei diesen Worten der Boden unter ihr verschob. Sie wollte nicht glauben, was er sagte, und dennoch fühlte sie eine tiefe, unerklärliche Zuneigung zu der Vorstellung, dass es mehr gab als die Welt, die sie kannte.
„Warum erzählst du mir das?“ fragte Noa leise und trat einen Schritt zurück.
„Weil du die Wahl hast“, sagte der Fremde. „Du kannst durch den Riss gehen, die andere Seite sehen, zumindest für eine Weile. Und vielleicht würdest du verstehen, dass die Entscheidungen, die du hier triffst, nicht die einzigen sind, die du treffen könntest.“
Seine Worte hallten in ihr nach, als Elins Ladenlicht erlosch und die Gasse in Schatten tauchte. Noa stand zwischen der vertrauten Sicherheit ihres Lebens und der Verlockung des Unbekannten. Es war ein Innehalten, ein Augenblick gewichtiger Stille, als ob die ganze Welt den Atem anhielt, um ihre Entscheidung abzuwarten.
Der Fremde wartete geduldig, und schließlich atmete Noa tief durch. „Ich will es sehen“, sagte sie, überrascht von ihrer eigenen Stimme.
Der Fremde lächelte, drehte sich um und begann langsam in den Schatten zu gehen. Ohne zu zögern folgte Noa. Der Schnee fiel dichter, schien die Welt um sie herum verschwinden zu lassen, bis nichts mehr übrig war außer dem Klang ihrer Schritte und dem fast lautlosen Rauschen des Schnees.
Als sie die Gasse verließen, wurde die Luft klarer. Ein Schimmern, wie Mondlicht, lag über einer Fläche des Schnees, die sich von ihrer Umgebung abhob. Vorsichtig trat Noa näher und fühlte, wie eine Welle von Wärme und Kälte gleichzeitig über sie schwappte.
„Bist du bereit?“ fragte der Fremde, sein Blick sanft und wissend.
Sie nickte, und gemeinsam schritten sie durch den Riss. Um sie herum veränderte sich die Welt scheinbar mühelos. Ein leichtes Glühen, als ob Sterne in ihren Händen zerbrachen. Und dann war es vorbei: Noa stand in einer ähnlichen Gasse, doch die Luft war erfüllt von einem leisen Summen. Hier waren die Laternen heller, der Schnee glitzerte wie gesponnene Träume.
Noa wusste, dass dies nicht ihr Zuhause war, sondern eine Reflexion davon. Eine Möglichkeit, ein anderer Weg. Der Riss war nicht nur ein Riss im Himmel, sondern ein Riss in der Realität selbst. Hier war alles möglich, jede Entscheidung bedeutungsvoll, doch auch voller Geheimnisse.
„Was willst du sehen?“ fragte der Wanderer.
Noa dachte an ihre Welt, an die sanfte Vertrautheit inmitten der Leere. Der Gedanke, dass alles eine Wahl sein konnte, faszinierte und verunsicherte sie zugleich.
Der Wanderer hielt inne, wie um all ihre Gedanken aufzunehmen. „Es gibt immer einen Weg zurück“, sagte er schließlich. „Aber die Erfahrung verändert uns alle.“
Noa blickte auf, die Dunkelheit war nun nicht mehr furchteinflößend, sondern eine Leinwand für ihre eigenen Gedanken. Der Riss hatte sich geöffnet, nicht nur im Himmel, sondern auch in ihrem Herzen.
„Ich denke, ich habe genug gesehen für eine Nacht“, sagte sie leise.
Gemeinsam traten sie zurück in die Kälte. Der Riss zog sich hinter ihnen zu, verschwand spurlos, als der Schnee begann, die Straßen wieder in seinen festen Griff zu nehmen.
Noa wusste, dass sie etwas Besonderes erlebt hatte. An einer Kreuzung ihres Lebens hatte sie die Richtung gewählt. Während sie durch die schlafende Stadt zurück zu ihrem Zuhause wanderte, spürte sie die Gewissheit, dass Entscheidungen selten in strahlendem Licht getroffen werden – manchmal zu den leisesten Klängen einer magischen Nacht.




