Der Schirm, der Wünsche sammelt
Es war eine kühle Herbstnacht und die kleinen Tropfen des Regens tanzten auf den Dächern der Stadt. Mina zog ihren Mantel enger um sich, als sie durch die glänzenden Kopfsteinpflastergassen spazierte. Die Laternen warfen goldene Lichter auf die nassen Steine und verwandelten die Straße in ein Meer aus spiegelnden Sternen.
Jeden Donnerstag besuchte Mina ihren Onkel Jo. Seine kleine Werkstatt roch nach frisch geschliffenem Holz, einem Hauch von Kiefer und einem winzigen Hauch Zimt, der sich immer um ihn herum zu schlängeln schien.
„Onkel Jo! Sieh mal, es regnet wieder! So ein herrlicher Regen“, rief Mina freudig, als sie die Werkstatt betrat. Onkel Jo, ein alter Mann mit einem strahlenden Lächeln und Augen, die den Glanz von tausend Geschichten trugen, richtete sich auf.
„Nichts Schöneres als Herbstregen, meine Kleine. Aber schau jenen Schirm dort an. Er hat schon viele Jahre gesehen, doch seit kurzem scheint er voller Magie zu stecken,“ meinte er geheimnisvoll.
Mina musterte den bunten Schirm, der in einer Ecke stand. Seine Farben waren leicht verblasst, aber er hatte eine seltsam einladende Aura. Ohne zu zögern, nahm Mina ihn in die Hand. „Darf ich ihn mal ausprobieren, Onkel Jo?“ fragte sie, die Augen voller Neugier.
„Natürlich, geh hinaus und lass dich vom Regen bringen, wohin er möchte,“ lachte er leise.
Mina trat mit dem Schirm hinaus. Sobald sie ihn öffnete, glommen die Farben auf magische Weise auf, als ob sie den Regen verschlucken und in tanzende Lichter verwandeln würden. Während sie die Straße hinunterging, fühlte sie sich plötzlich freier, als ob der Schirm nicht nur den Regen, sondern auch leise Wünsche trug.
Der Regen klatschte sanft auf das Tuch des Schirms, ein leises, beruhigendes Geräusch. Allmählich merkte Mina, dass der Schirm nicht nur Licht einfing, sondern auch die leisen Stimmen der Wünsche der Menschen um sie herum flüsterte. „Ich wünsche mir eine warme Mahlzeit.“ „Ich hoffe, dass jemand an mich denkt.“
Fasziniert blieb Mina stehen und lauschte. Die Wünsche schwebten in der Luft wie kleine, unsichtbare Glühwürmchen. Plötzlich hörte sie eine neue Stimme, gedämpft und freundlich.
„Ich bin der Schirm, der Wünsche sammelt. Wünsche, die geteilt werden, werden wahrer,“ erklang es sanft.
„Wirklich?“ Mina flüsterte staunend in die Nacht und der Schirm erwiderte lediglich mit einem kleinen, zustimmenden Nicken – oder war es vielleicht nur der Wind?
Noch während sie darüber nachdachte, fielen ihr die Kinder aus der Nachbarschaft ein. Sie liefen oft in alten Regenmänteln herum und spielten in den Pfützen, machten sich nichts aus dem nassen Wetter, aber vielleicht hätten sie auch so einen Wunsch.
Schnell klappte Mina den Schirm zu und rannte zurück zur Werkstatt von Onkel Jo, wo schon ein vertraut warmer Zimtbogen in der Luft lag. „Onkel Jo! Ich habe eine Idee! Wir könnten den Schirm auf den Platz stellen, damit alle ihre Wünsche darauf flüstern können!“
Mit einem Lächeln nahm Onkel Jo den Vorschlag sofort auf und gemeinsam hingen sie den Schirm vorsichtig an den großen, alten Baum am Hauptplatz der Stadt. Die Menschen, die dort vorbeikamen, sahen den seltsamen Schirm und blieben stehen.
Die Worte verbreiteten sich wie eine angenehme Melodie und bald begannen die Menschen, ihre Wünsche hinein zu flüstern. Ein wohltuender Frieden durchströmte die Stadt an diesem Abend. Mina sah zu, wie ihre kleine Idee einen großen Unterschied machte.
Als sie an jenem Abend ins Bett ging, hörte Mina das sanfte Trommeln des Regens gegen ihr Fenster. Ihr Herz fühlte sich warm und erfüllt an. Lächelnd schloss sie die Augen.
Auch der Schirm war zufrieden. Sein Tuch sammelte weiter die Wünsche der Menschen ein, voller leiser Hoffnung, voller kleiner Wunder. Und bei jedem Tropfen, der auf ihn fiel, leuchtete er ein bisschen heller.
In dieser Nacht schlief Mina mit dem Gefühl ein, dass ein Wunsch, den man mit anderen teilt, eine ganz besondere Magie entfaltet und ihre Träume von zahllosen funkelnden Regentropfen durchzogen waren.




