Der Schneetag, an dem sie nicht ins Büro ging
Der Morgen dämmerte mit einem seltsamen, fast surrealen Leuchten. Dicke Schneeflocken fielen unaufhörlich vom grau verhängten Himmel und legten sich wie ein flauschiger Teppich über die Stadt. Nadia stand an der Bushaltestelle, den Kragen ihres Mantels hochgeschlagen, die Hände tief in den Taschen vergraben. Der Bus würde nicht kommen. Das hatte sie im Gefühl, noch bevor sie die Nachricht auf ihrem Handy sah: ‘Wegen der Wetterbedingungen verkehren heute keine Linien.’ Sie seufzte. Ihr Chef Herr Boll hatte am Vortag noch stolz von seinem Winterreifen-Kit auf dem Wagen geprahlt.
Nadia überlegte flüchtig, ob sie ein Taxi rufen sollte, doch der Gedanke verflog schnell. Vor ihrem inneren Auge sah sie die leeren Straßen vor sich, ein einziger weißer Schleier, der sich über den Asphalt gelegt hatte. Spontan entschied sie sich, die nächste Straßenbahn zu nehmen und zu schauen, wohin sie gelangen würde.
Ein paar Schritte weiter stieß sie auf die Haltestelle der Straßenbahn. Hinter den beschlagenen Scheiben war kein einziger Mensch zu sehen. Nadia wagte sich hinein und nahm Platz. Die Sitze waren kalt, und der Motor surrte gedämpft vor sich hin, während der Schaffner in seinem Führerstand alle paar Sekunden die Scheibenwischer aktivierte. Sie dachte an die E-Mail ihres Chefs: ‘Erwarte Sie um Punkt neun im Büro.’
Ein unsichtbares Band der Pflicht zog an ihrem Gewissen, doch bei jedem Wisch ihrer Straßenbahn entschwand ein wenig mehr von dieser Verpflichtungshaltung in ihrer Brust. Als die Straßenbahn durch die verschneiten Straßen zog, veränderte sich etwas in Nadia. Was wäre, wenn sie, nur heute, einfach nicht ging? Wenn sie sich einen Tag Freiheit in der starren Kälte gönnte, die ironischerweise eine warme, einladende Möglichkeit in sich barg?
Haltestelle für Haltestelle verging, und mit jeder weiteren wuchs ein Gefühl der neuen Möglichkeiten in Nadia. Schließlich stieg sie an einer besonders idyllischen Ecke aus. Das Café an der Ecke zog sie förmlich an: warme Lichter blinkten behaglich hinter beschlagenen Fensterscheiben.
„Guten Morgen!“ Toni, der Barista, begrüßte sie mit einem breiten Lächeln, als sie eintrat. „Perfektes Wetter für einen heißen Kakao, nicht wahr?“ Nadia nickte, ging zur Theke und bestellte genau das. Sie setzte sich an einen Tisch in der Ecke, von dem aus sie die Straße beobachten konnte.
Als sie den heißen Kakao umklammerte, spürte sie, wie die Wärme von den Fingern bis in ihr Herz strömte. Toni war bald zurück bei ihr mit einem Teller Croissants und sie plauderten, als wären sie alte Freunde. Während sie es kaum merkte, flogen die Stunden dahin.
Die Stadt draußen wirkte viel friedlicher als an einem normalen Werktag. Die Leute gingen langsamer, schwatzten und schienen sich leichter zu bewegen. Vielleicht lag es an der Last des Schnees, die den täglichen Stress ebenso zudeckte, wie die Stadt selber.
Nadia zog ihr Handy aus der Tasche und sah auf die Uhr. Ohne es zu realisieren, war der Vormittag fast beendet. Normalerweise wäre sie jetzt tief ins Tagesgeschäft vertieft. Ein Lächeln schlich sich ungewollt auf ihr Gesicht. Das Leben konnte so einfach und schön sein, wenn man nur ab und zu erlaubte, sich eine Pause zu gönnen.
An diesem Nachmittag ging sie nicht ins Büro. Sie spürte, dass ihre Entscheidung eine kleine Revolte gegen die Routine bedeutete, doch anstatt Schuld, erfüllte sie eine seltsame Befriedigung. Was würden sie schon verlieren? Ein zusätzlicher Freiraum war viel gewinnbringender als ein weiterer Tag in einem kleinen, schlecht beleuchteten Büroraum.
Bevor sie das Café verließ, hielt sie kurz inne. Verdoppelt hatte sich die Menschenmenge im Raum, und Toni eilte von Tisch zu Tisch mit einer schnellen Höflichkeit, die ihn entlastete. Nadia verabschiedete sich mit einem Lächeln und einem furchtlosen Gefühl für die kommenden Tage, als habe sie alle Zeit der Welt, um die kleinen Details zu schätzen, die zuvor im Trubel der Routine verschwommen waren.
Während sie durch die immer noch schneebedeckte Stadt ging, fiel ihr auf, dass sie zum ersten Mal seit Wochen Freude an den kleinen Dingen hatte – an dem sanften Knirschen des Schnees unter ihren Stiefeln, an den verschneiten Dächern und funkelnden Lichterketten, die wie Diamanten auf den Bäumen hingen. Vielleicht war es die Ruhe oder die Freiheit, die sie an diesem Tag spürte; jedenfalls wandelte sie in einem Trost, der ihr seit Langem gefehlt hatte.
Als der Tag sich dem Ende zuneigte und es dunkelte, wusste Nadia, dass dies keine Flucht war, sondern eine Rückkehr zu einem Gefühl der Selbsterkenntnis – ein Geschenk an ihr zukünftiges Ich.




