Der Schneewind, der Geschichten brachte
In einer kleinen, verwinkelten Stadt, wo schiefe Dachfirste und krumme Gassen voller Geheimnisse steckten, stand ein besonders schiefes Haus. Es war das Zuhause von Emil und seiner Oma Rika. Die langen Winterabende verbrachten sie oft am Fenster, durch das ein mattes Kerzenlicht sanft in die verschneiten Straßen hinausstrahlte.
An solchen Abenden legte sich der Schnee wie eine weiche Decke über die Dächer und schien die Welt zur Ruhe zu bringen. Emil kletterte gern auf den Fenstersims, kuschelte sich in eine dicke Decke und lauschte, denn an solchen Abenden kam der Schneewind, der Geschichten brachte.
“Hör nur Emil!” flüsterte Oma Rika mit einem geheimnisvollen Lächeln, während der Wind leise über die Hausgiebel streifte. “Der Schneewind erzählt uns von der alten Zeit, als ich noch ein kleines Mädchen war.”
Emil schloss die Augen und ließ die Stimme des Windes in seine Ohren wehen. Er stellte sich vor, wie Oma Rika als kleines Mädchen durch die selben Gassen lief, um zu sehen, ob der Fluss zugefroren sei oder ob der Bäcker schon Lebkuchen backte.
“War der Schnee damals auch so weich, Oma?” fragte Emil neugierig.
“Viel weicher,” erwiderte Oma Rika und strich ihm liebevoll übers Haar. “Und in der Luft lag der Duft von frisch gebackenem Brot und Tannengrün. Jedes Jahr zur gleichen Zeit, ganz wie jetzt.”
Der Schneewind umspielte die Fassaden der alten Stadt, ließ die Fensterläden klappern und rief Geschichten hervor aus längst vergangenen Wintern. Emil hörte von Schlittenrennen den Hang hinunter, von glitzernden Eisblumen an den Fenstern und von Weihnachtsmärkten mit Nussknackerfiguren und leuchtenden Sternen.
Während der Schneewind weitertanzte, griff Oma Rika in eine alte Eichenholzschachtel. “Hier schau, Emil,” sagte sie und holte einen kleinen Zinnsoldaten hervor. “Den bekam ich zu meinem ersten Weihnachten hier, im alten schiefen Haus.”
Der Zinnsoldat schien eine Geschichte zu erzählen, die der Schneewind längst vergessen hatte. Emil betrachtete ihn mit leuchtenden Augen, seine glanzvolle Uniform erzählte von Abenteuern in Puppenstuben und Märchenwelten der Vergangenheit.
Die Worte der Geschichten taten ihre Wunder, und Emil fühlte, wie die Wärme der Erinnerungen ihm wie eine Tasse heißer Kakao durch den Körper floss. Das sanfte Flackern der Kerze spiegelte sich in seinen Augen wider, und der Abend wurde zur besten Zeit des Jahres.
Der Schneewind klang langsam aus, wie ein Wiegenlied über der Stadt. Die Kerze im Fenster flackerte ein letztes Mal, bevor Emil sich schlafbereit machte. Er kuschelte sich tief in die Decke und träumte von all den Geschichten, die der Winter ihm noch erzählen würde.
„Das ist mein Lieblingswinterschatz,“ murmelte Emil, bevor er einschlief, und der Wind legte sich schützend um das alte schiefe Haus.
Oma Rika sah ihrem Enkel zu, wie er fest schlief, und wusste, dass diese Geschichten ihn auch in seinen Träumen begleiten würden. Der Winter legte seinen stillen Zauber über die Stadt, und als der Schneewind seine letzte Melodie sang, war die Welt vollkommen friedlich.
Der Mond scheine durch das Fenster und hüllte alles in ein sanftes Licht. In diesem Moment wusste Emil, dass die Geschichten, die ihm erzählt wurden, tief in seinem Herzen ihr Zuhause gefunden hatten.
Die Ruhe dieser Nacht breitete sich aus, und Emil träumte von schneeweißer Glückseligkeit. Die Kerze flackerte ein letztes Mal und erlosch, aber die Geschichten blieben.


