Der Vertrag mit dem neuen Jahr
Der spärlich beleuchtete Raum in der kleinen Stadtwohnung war erfüllt von einem ständigen, leisen Knistern des Radios, während Philipp am Küchentisch saß, umringt von Papieren. Draußen tauchten die ersten Raketen den Winterhimmel in ein feuriges Mosaik aus Farben und Lichtern. Es war Silvesterabend und die Welt machte sich bereit für den Wechsel in das neue Jahr.
Philipp seufzte und nahm einen Schluck des inzwischen lauwarmen Kaffees, der neben ihm stand. Der Tisch war bedeckt mit Blättern voller Notizen, seine schriftlichen Erinnerungen und To-Do-Listen, welche die Spuren der letzten zwölf Monate festhielten. Direkt vor ihm lag ein ungeschriebenes Blatt Papier, das ihn dazu aufforderte, die Neujahrsvorsätze für das kommende Jahr aufzuschreiben.
‘Das neue Jahr ist wie ein neuer Vertrag’, hatte sein Freund Karim immer gesagt, voller Enthusiasmus und mit dem schwungvollen Optimismus, den Philipp bewunderte. Trotzdem fiel es Philipp schwer, diesem Ritual die gleiche Hoffnung einzuhauchen; dafür lag der Eindruck einer gescheiterten Beziehung noch zu schwer auf seinem Herzen.
Seine Gedanken wanderten unweigerlich zu Jana, seiner Ex-Partnerin. Es war ihr gemeinsamer Plan, zusammen Silvester und die Feiertage zu verbringen. Waren es nicht genau diese Momente, die sie immer gemeinsam ausgemalt hatten? Die Erinnerungen nagten an ihm, während die Wachsträne einer brennenden Kerze auf dem Tisch langsam Stempel von vergangenen Hoffnungen formte.
Ein kurzer, lauter Knall draußen riss ihn aus seinen Gedanken. Das Feuerwerk draußen faszinierte und erschreckte ihn gleichermaßen. Darin entdeckte er funkelnde Symbolik – den farbenprächtigen Abschied von Altem und die zugleich zaghafte Begrüßung von Neuem.
Die Türklingel unterbrach das rhythmische Ticken der Wanduhr. Karim, sein engster Freund, trat ein, verpackt in einen dicken, moosgrünen Mantel, während er gleich eine neue Energie in den Raum mitbrachte. In den Händen hielt er eine Flasche Sekt, die verheißungsvoll klirrte.
‘Frohes neues Leben!’ rief Karim mit einem breiten Grinsen und umarmte Philipp herzlich. Die vertraute Wärme seines Freundes war eine willkommene Ablenkung von den tristen Gedanken.
‘Frohes neues dir auch’, erwiderte Philipp mit einem erzwungenen Lächeln.
Skeptisch betrachtete Karim den Tisch und die chaotische Papieransammlung. ‘Was hast du da? Deine Neujahrsvorsätze?’
‘Noch nicht.’ Philipp schob ein leeres Blatt Papier über den Tisch zu Karim. ‘Da ist nichts drauf. Ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen soll.’
Karim setzte sich zu ihm, ohne das Lächeln zu verlieren. ‘Weißt du, manchmal sind die besten Verträge, die man machen kann, die mit sich selbst. Aber sie sollten nicht aus Verpflichtung entstehen, sondern aus einem Wunsch nach Veränderung.’
Philipp hörte zu, die Worte seines Freundes sickerten rücksichtsvoll ein. Plötzlich erschien das leere Blatt Papier wie eine Einladung, eine Leinwand für neue Perspektiven – ohne die erdrückende Verpflichtung der Perfektion.
‘Vielleicht solltest du zuerst das beenden, was du nicht mehr in deinem Leben willst, bevor du Neues festschreibst’, schlug Karim vor, während er die Flasche Sekt knallend öffnete. Ein weiterer Knall am Himmel untermalte die Geste feierlich.
Mit einem überlegteren Blick auf seine Notizen spürte Philipp zum ersten Mal eine Veränderung in sich. Es war, als hätte jemand ein Fenster geöffnet und frische Luft in einen lange nicht gelüfteten Raum gelassen.
Der Rest des Abends verbrachte er mit Karim, lachte über ihre gemeinsamen Erinnerungen und Wünsche und begrüßte schließlich das neue Jahr mit einem verjüngten Verständnis von persönlicher Freiheit.
Als Karim sich später auf den Heimweg machte, blieb Philipp noch einen Moment an das Fenster gelehnt stehen, das für ihn zum Rahmen einer neuen Aussicht geworden war. Er spürte den Vorfreuden und der Ehrfurcht, die mit dem Unbekannten verbunden waren.
Schließlich kehrte er zurück an den Küchentisch. Die Tanzenden Lichter des Feuerwerks spielten auf seinem Gesicht, während er mit Bedacht das leere Blatt aufnahm.
Er konnte nicht verhindern, dass sich ein ruhiges Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete, als er den Stift ansetzte und für sich selbst die ersten Worte des neuen Jahres schrieb. Es war mehr als ein Vertrag; es war ein Versprechen an sich selbst.




