Der Zeuge im Wind
Die Luft war erfüllt mit dem salzigen Duft des Meeres, als die Gischt der anrollenden Wellen an den Klippen zerschellte. Der Frühling hatte gerade seine zaghafte Hand ausgestreckt, half aber nicht gegen den schneidenden Wind, der über Lea wehte und ihren Mantel flattern ließ.
Lea war unterwegs zur kleinen Wetterstation, die am Ende des Klippenpfads, hoch über dem aufgewühlten Meer, thronte. Es war noch früh am Abend, aber die dichten Wolken ließen es bereits düster erscheinen.
Ihr Geist war voller Fragen nach dem, was sie am Nachmittag gehört hatte – ein Notruf, vage und durchsetzt mit statischem Rauschen. Eine Stimme, verzweifelt und warnend, bevor sie in eine wirbelnde Stille abriss.
Finn saß in der kleinen Kabine und überwachte die Instrumente. Der Meteorologe hatte lange Einsätze in der Abgeschiedenheit hinter sich und liebte den einsamen Charme der Sturmwache. Hier beobachtete er nicht nur das Wetter, sondern fasste auch einen Blick für die Dramen, die sich gelegentlich an dieser rauen Küste abspielten.
Als Lea die Wetterstation betrat, warf sie nur einen schnellen Blick auf Finn. Sie hatten sich nur flüchtig gekannt, doch in dieser Nacht verband sie mehr – ein ungeklärtes Rätsel und der unvergessliche Anblick des drohenden Sturms.
„Guten Abend“, sagte Finn ruhig und begann nicht aufzusehen, während er Daten notierte. „Bist du wegen des Anrufs heute Nachmittag hier? Ich habe das gleiche Rauschen gehört. Wetter macht seltsame Dinge mit Signalen.“
Lea nickte, trat ans Fenster und schaute hinaus in die schwärzliche Dunkelheit, die mit jeder Minute dichter wurde. „Es war mehr als ein Rauschen. Ich wünschte, wir könnten mehr herausfinden.“
Finn schob seinen Stuhl zurück und erhob sich. „Ich habe etwas an den Küstenleuchten gesehen. Vielleicht war es nur ein Spiel von Licht und Schatten.“ Er wäre gleichgültig geblieben, hätte er nicht das Unbehagen in Leas Augen gesehen.
„Ich setze auf Wahrscheinlichkeit, aber Geschichten wie diese vertragen kein Misstrauen. Vielleicht gibt es etwas, das wir übersehen haben.“
Ein kurzer Moment, der Raum war gefüllt mit dem Heulen des Windes, dem unermüdlichen Dröhnen der Wellen unter ihnen. Plötzlich war Finn sich nicht mehr sicher, ob der Schritt auf diese Küsten so selbstverständlich war, wie er es geglaubt hatte.
Sie verließen die Station zusammen und machten sich auf den Weg zurück den Pfad entlang, stets aufmerksam gegenüber ihrer Umgebung. Die Dunkelheit war fast greifbar, die Taschenlampe warf hüpfende Lichtflecken über Steine und Gras. Doch weder Lea noch Finn konnten genau ausmachen, woher die Unruhe in ihren Gedanken kam.
Der Weg zu den Leuchten war gefährlich, doch voller Hoffnung. Jeder Baum schien eine Geschichte zu erzählen, gedämpft nur durch die Tapferkeit des steifen Blattwerks. Lea nahm die Führung und trat sicher von einem Stein zum nächsten, während Finn hinter ihr den Weg erhellte.
Am Rande der Klippen verharrten sie, als der Wind ihr Flüstern trug, schwer und geheimnisvoll: ein klagender Laut, beinahe menschlich. Sie hielten inne, während die Dunkelheit zwischen ihnen dichter wurde und die See ihre Zuhörer umarmte.
„Vielleicht liegt die Wahrheit in den Schatten verborgen“, murmelte Finn und sah, wie das Licht von der Tiefe der Nacht verschluckt wurde.
Unter den stillen Leuchten schloss sich der Kreis des Tages, doch löste sich nicht die Lösung für das Mysterium. Lea wusste, dass es in solchen Nächten Zeit und Vertrauen brauchte – nicht in den Schatten, sondern in diejenigen, die mit ihr im Wind standen.




