Die Entscheidung im Flurlicht
Lia zog ihren Mantel fester um die Schultern. Der Flur war kalt, das Licht hart und unbarmherzig. Der Nachmittag war zu einem dunklen Abend geworden, die wenigen Straßenlampen draußen warfen schwache Schemen an die Wände. Ihre Schritte hallten im Treppenhaus wider, eine melancholische Melodie ihrer Unentschlossenheit.
Der Brief lag schwer in ihrer Tasche, als wäre er ein Stein, der ihr Wagnis zu Boden zog. Es war einer jener seltenen Momente im Leben, in denen die Zukunft wie ein Tunnel vor einem liegt, und man fühlt, mit jedem Schritt könnte man entweder in den Abgrund oder ans Licht treten.
Sie blinzelte in das grelle Flurlicht und zwang sich, weiterzugehen. Die alte Holztür zu ihrer rechten Wohnung knackste unter dem Gewicht der Jahre, und der Briefschlitz klappte klagend auf und zu, in Erwartung einer Nachricht, die niemals eintreffen würde.
„Alles gut, Lia?“ fragte eine Stimme hinter ihr. Frau Moritz, ihre Nachbarin, eine Witwe in ihren Siebzigern und ständige Wächterin des Flures, trat aus ihrer Wohnung. Sie umklammerte eine Zeitung, als wäre sie eine Sammlung von Geheimnissen.
Lia zwang sich zu lächeln, aber ihre Lippen wollten nicht so recht. „Ja, alles gut, danke. Nur ein bisschen frische Luft schnappen.“
Frau Moritz nickte wissend. Ihre Augen lagen schwer auf dem Brief, der halb aus Lias Tasche hervorschaute. „Manchmal ist Veränderung gut für die Seele, weißt du.“
Lia nickte, ohne wirklich hinzuhören, und setzte ihren Weg fort. Sie ging zu der kleinen Bank am Ende des Flures, die als Ablage für Schuhe und als Sitzgelegenheit diente. Sie setzte sich mit einem Seufzen, das aus den tiefsten Tiefen ihrer Erschöpfung aufstieg.
Der Brief enthielt ein Angebot. Eine Gelegenheit, alles hinter sich zu lassen. Eine Arbeit in einer anderen Stadt, weit weg von hier. Weg von ihm. Er, der jetzt nicht einmal da war, wenn sie am meisten seine Gegenwart brauchte. „Festival der Vergeblichkeit“, wie sie es insgeheim nannte.
Das Klacken von Stöckelschuhen echote den Flur entlang. Eine junge Frau, wahrscheinlich eine neue Mieterin, kam laut sprechend die Treppe herab. Lia erkannte in ihr das unbedingte Streben nach etwas, das sie einst kannte – ein Durst nach Leben, der sich jetzt nur noch in leeren Trinkgläsern am Samstagabend spiegelte.
Lias Handy vibrierte stumm in ihrer Tasche. Wahrscheinlich eine Nachricht von ihm. Ein weiteres Versprechen, das er nicht halten würde. Sie ignorierte es. Stattdessen zog sie den Brief heraus, studierte nochmals die Worte. Jedes Wort ein Winde, kräftig genug, um sie vom Boden zu heben, wenn sie es nur zulassen würde.
Erinnerungen kamen wie Wellen über sie, zogen sie zurück in Momente, die sie verloren glaubte. Doch mit jedem Schwellen fühlte sie auch, wie sie sich anstrengen musste, über Wasser zu bleiben. Loslassen. Wie einfach es klang, dachte sie, die Finger fest um den Mantelkragen verkrampft, als böte er Halt vor der Möglichkeit des Unbekannten.
Letztendlich war es Frau Moritz, die aus ihrem Versteck in der Türöffnung sprach: „Du bist stark, Lia. Lass das nicht vergessen.“
Lia schaute in ihre weisen alten Augen und schien in ihnen all die Kämpfe zu sehen, die sie selbst je ausgefochten hatte. Eine Frau, die geblieben war und doch in vielerlei Hinsicht gegangen, indem sie diese Wände mit Geschichten gefüllt hatte. Lia hob den Kopf, blinzelte die aufkommenden Tränen zurück. Es war Zeit.
Der Schlüsselbund klimperte in ihrer Hand, als sie sich erhob. Der Brief in ihrer Tasche fühlte sich plötzlich nicht mehr schwer an, sondern wie eine Feder, die nur darauf wartete, dass der Wind sie trug. Sie lächelte Frau Moritz zu, ein aufrichtiges Lächeln, das nicht gezwungen war.
„Danke, Sie haben Recht“, sagte Lia schließlich. Sie griff nach dem kalten Metall der Tür und ging hinaus in das schneebedeckte Treppenhaus. Hier, wo sich Entscheidungen trafen, in dem kalten Licht des Flurs, spürte sie schließlich den Mut, zu gehen. Manchmal, dachte sie, ist Gehen der größte Gewinn.
Der Flur blieb ruhig hinter ihr, während sie nach draußen trat, wohin auch immer der nächste Schritt sie führen konnte.




